TEURE ZEIT

Da ist viel mehr Zeit innerhalb eines Tages,
als wir vermuten.
Zeit genug, um mehr zu erfüllen, als wir oft versuchen.
Zeit genug, um alle zu lieben, die wir lieben wollen.
Doch nicht Zeit genug, falsch zu gehen und wieder zurück zu kehren.
Dafür musst Du nach einmal leben.
Drum: widme Dich heute allem,
was Dir lieb und teuer ist.
Zeit für mehr hast Du nicht.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

DOCH KEINER SPRICHT ES AUS

Das Wissen springt
wortlos
von Augenpaar zu Augenpaar
Augenblick zu Augenblick
buchstäblich

Doch keiner spricht es aus.

Die einen, um ihre Freude zu verbergen.
Die anderen, um ihre Angst zu verbergen.
Und in dem Schweigen wächst die Gewissheit.
daß Morgen das Kind von Gestern ist.
Nicht heute.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

STIMMEN AUS SCHWEIGEN

Videokonferenz. Stimmen.
Ich höre mich nicht.
Ich höre nur mein Schweigen, reichhaltig,
genau so laut.

Als die Konferenz plötzlich vorbei ist
und die Stimmen weg sind,
höre ich auf einmal meine Gedanken wieder
und mein Schweigen nicht mehr.

In den Stimmen
höre ich mein Schweigen.
In meinem Schweigen
höre ich die Stimmen.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

DIE ZEITEN

Die Sonne wiederholt sich
Der Mond wiederholt sich
Die Jahreszeiten, alles wiederholt sich

Wieso erwarten wir denn, daß
einzig und allein die menschliche Geschichte
sich nicht wiederholen wird?

Der Kluge kauft sich Hut und Creme
für den Tag, und ergattert sich
Musik und Liebe für die Mondnacht

Und bereitet sich
schweren Herzens
auf die Dummheit der Menschheit vor.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

FOKUS

Naht sich wieder ein Zeitalter,
in dem jeder Soldatenkuss
ein Abschiedsgruß ist,
wo die Liebe ein Fluß ist, die schmerzlich
trennt und vergißt zu trösten?
Das Zeitalter des abgekoppelten Gesterns,
des Morgens ohne Landebahn,
des desorientierten Heutes, in dem
die Hoffnung alleine die knappe Währung ist,
in der wir die Freude, jene Mangelware, tauschen?

Naht sich wieder das Ende von Familien,
der Anfang von Erinnerungen, die von
Fremden hinterher und mühsam
zusammengestellt werden? Naht sich Verrat,
das Ende von Nachbarschaft? Naht
sich das Unterdrücken von Atmen und Wollen,
jetzt wo der Freie Wille nach Befreiung schreit?
Wie eine auseinander genommene Kamera bin ich
viele verschiedene Teile gerade, zerstreut,
ohne Fokus. Ohne Fernblick. Voller Fragen.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

SEHNLICH

Wie sehnte ich mich nach Dir
als sehnte ich mich nach mir
und als Du verschwunden bliebst,
starb mit Dir der Mensch, der ich war.

Jetzt schaue ich jeden Morgen
aus dem Fenster nervös in die Ferne
und bete inbrünstig, sehnlich, daß
Du nie wieder auftauchst.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

TEILEN

Ich berühre Dich
denke ich, doch
ich berühre mich

Im Dunkeln
zünde ich mir das Licht
wenn ich Dich zum Funkeln bringe

Es gibt keinen Unterschied
im Dunkeln
zwischen Dir und mir

Ich berühre Dich
Ich berühre mich
Hauptsache, Du lachst.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

HAUT

Haut ist laut
Vertraut

So vertraut
Sie klaut uns den Einblick,
verbaut uns fein den Eintritt
in die Welt unter der Haut

Gleichart ist nicht immer Gleichart
Unter der Haut …
Umgekehrt.
Welten und Welten von Geheimnissen
sind dadrunter verstaut.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

MINORITÄTEN

Jede Gesellschaft hat einen Saum,
einen Rand an seinem Außenraum,
weder Abschaum noch nur Schaum;
ein festes Glied, aber klein. Ein Daumen.

Ein Schweigen mit feinem Gaumen.
Alles sehend, alles riechend, alles hörend
Alles meidend, und ergänzend, und störend
Von allem ausgeschlossen, zu allem dazugehörend.

Eine Anklage gegen das Weltgewissen
Eine Infragestellung unseres Begriffs von Wissen:
Warum ist jede Gesellschaft hin- und hergerissen
Zwischen Toleranz und Haß?

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

PUZZLETEILE DER MENSCHHEIT

Ich komme aus einer Welt,
die mich nicht versteht
und lebe in einer Welt,
die mich falsch versteht,
weil ich in der ersten Welt zur zweiten
und in der zweiten Welt zur ersten
angeblich gehöre oder gehören sollte.

Äußerlich unterdessen
kämpfe ich in der ersten Welt für Rechte,
die es in der zweiten gibt,
und in der zweiten für Rechte,
die es in der ersten gibt
und frage mich, ob sie sich je
in der Mitte treffen werden.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung