AUSDRUCK

Als ich tot war
und nichts spürte, außer Schmerz,
dachte ich, ich wusste, was Schmerz ist

Als ich, noch tot, anfing
mich nach dem Leben neu zu sehnen
lernte ich, daß der Schmerz des Todes nichts
im Vergleich zum Schmerz der Sehnsucht ist

Dann erwachte ich wieder zum Leben
und verstand, daß weder der Tod
noch die Sehnsucht mehr schmerzt,
als das Leben selbst. Es schmerzt so sehr,
es bringt Deine Freude zum Aus-Druck.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

WENN DU DEN SCHMERZ NICHT MEHR FÜHLST

Wenn Du den Schmerz nicht mehr spürst,
bist Du stark oder bist Du taub geworden?
Wenn Du die Nacht nicht mehr hörst,
bist Du hell oder bist Du taub geworden?

Oder wie soll ich das sonst sagen?
Ich lief durch den Tag, durch die Stadt
und sie fühlte sich nicht mehr fremd an.

Bin ich wach geworden oder bin ich tot?
Wie kann etwas einst neu und fremd
sich anfühlen jetzt wie eine Heimatstadt?

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

DAS ANDERE UFER

Silbrig wie ein Spiegel
lag und lauschte der Fluß da
regungslos wie ein unerfüllter Traum
verschwand er in die Ferne
und war immer noch da

Eine Nebelwolke schwamm über das Wasser
wie eine Armee von Laufboten
nur verstand ich ihr Geflüster nicht
bis sie seufzend sich löste und ich sah
auf dem anderen Ufer mein zweites Ich.

Ich sprach zu mir
doch ich hörte mich nicht
von der anderen Seite des Flusses –
Wir starrten uns wortlos an, ich und ich,
getrennt durch unerfüllte Träume.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

ANDERS SEIN

Wir wollen alle das Gleiche
deshalb muss jeder was anderes machen –
Macht jeder das Gleiche,
wollen wir alle unterschiedliche Sachen.

Nie werden die Jahreszeiten
sich gegenseitig nachahmen oder gleichen –
Denn alle wollen das selbe vorbereiten,
So stellt jeder auf seiner Art die Weichen

Das Jahr wird immer rund sein:
Ein bisschen Freude, ein bisschen Schmerz,
Ein bisschen hart sein, ein bisschen wund sein,
Die Mischung macht das Menschenherz.

Und Du wirst Du sein, und ich ich
Und sehnen uns beide nach dem anderen
Wir wollen beide Liebe gegenseitig;
Das bekommt jeder nur in dem anderen.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

VÖLKERVERSTÄNDIGUNG

Der Lärm bedeckte bekanntlich das Schweigen nicht
Denn das Schweigen übertönt alles –
Alle Gespräche, alle Verträge, alle Abkommen –
Keiner redet wirklich mit den anderen.
Alle schweigen.
Und verschweigen das Schweigen.

Wald- und Wüstenwege
Flüsse und Seerouten
Dann Flugzeuge, dann das Internet
brachten sie zusammen
Sie lernten sich jedoch nicht kennen
Nur ihre Vorurteile trafen aufeinander
Und nun sind alle perplex.

Nie war die Welt vereinter
Nie war die Welt getrennter
Denn Nähe überwindet keine Distanz
Nähe verdeutlicht und verschärft Distanz.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

SPRECHENDE TATEN

Ich liebe Dich ist ein Klischee
man, so ein Klischee
ich würde es gerne ins Gesicht boxen
dafür
daß es wie Faust aufs Auge
auf das zutrifft
was ich für Dich in mir trage
manchmal kristallklar, manchmal vage
doch in jeder Lage
mit jedem Blick, mit jedem Streit
und mit jeder Tat Dir täglich wortlos sage.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

IN LIEBE IST GEDULD

Neben Dir
Wegen Dir
lernte ich das Warten
Denn neben Dir
wegen Dir
hatte ich nichts mehr zu erwarten
als Dich
dachte ich –
Doch fand ich, stattdessen, mein Ich.

Und jetzt warte und warte und warte
ich auf Dich
denn neben Dir
wegen Dir
fühle ich mich wie Ich
und dafür lohnt es sich
hier in unserem Liebesgarten innerlich
zu warten geduldig
auf Dich.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

AUCH DU BIST EIN BAUM

Der Baum stand da
im Regen und in der Sonne
und sagte zu mir
Ich biete Schutz und Schatten an
Ich bitte und bettle selbst nicht
um Schutz und Schatten –
So viel Stolz habe ich.

Und ich antwortete
Aber Du brauchst auch Schutz –
Und der Baum sagte zu mir
Das ist Deine Sorge
Mich interessiert das nicht
Denn auch Du Mensch bist ein Baum
So viel Stolz musst Du haben.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

ES WIRD NOCH LANGE DAUERN

Es wird noch lange dauern
bis Ihr mich anschaut
und nicht zuerst Eure Vorurteile
unterdrücken müsst
um mit mir lächeln zu können

Meine Kinder werden diese Zeilen wiederholen
Ihre Kinder werden diese Zeilen wiederholen
Ich weiß es
Denn auch mein Vater wiederholte sie
und sein Vater vor ihm

Erst dann werden diese Zeilen
nicht mehr wiederholt,
wenn wir nicht mehr da sind zum Anschauen
weil wir weiter gegangen sind
und Euch zurückgelassen haben.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

GRAUE HAARE

All die Jahre waren Haare,
üppig und schön gemacht –
wurden grau und dünn und wenig
und jetzt sind sie weg

Nun steht die Zeit still
wie eine Glatze, widerspiegelt
das endlose Warten auf einen Zug,
der schon abgefahren ist.

Und die stille Zeit
wie die Stille Nacht
wird zum tiefen Meer der Erinnerung
und des Schöpfens ewiger Jugend.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung