Die Kälte, wie eine blasse Wand, schiebt sich durch die Gassen, bringt uns zusammen und trennt uns gleichzeitig, entsprechend unserer Klassen. Du wusstest nicht, dass Du zu einer Klasse gehörst, bis angewidert jemand Dich hochnäsig meidet. Du wusstest nicht dass Du einer Klasse angehörst bis Du jemand siehst, der schlimmer leidet. Dann klingelt es leise im weihnachtlichen Nebel. Angeblich ist es die Zeit, Licht zu teilen. Meine Flamme Dir, Deine Flamme mir - zusammen können wir uns gegenseitig heilen. Angeblich. Doch die Kälte, Mantel der Angst, legt sich auf jeden von uns nieder, uns von einander trennend. Che Chidi Chukwumerije Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
Armut
BAHNHOFSVIERTEL 1
Eine Wechselstube am Hauptbahnhof Der bedrückend foulste Gestank trat ein Alle Kunden drehten sich erschrocken um Starrten irritiert murmelnd die Quelle an Eine Weiße drückte die Hand vor die Nase Eine Asiatin drückte die Hand vor die Nase Ein Araber drückte die Hand vor die Nase Ein Schwarzer drückte die Hand vor die Nase Der Verursacher des üblen Gestanks Holte etwas vom Schalter, ging wieder Er war weder weiß noch asiatisch Noch arabisch noch Schwarz Er war obdachlos. Che Chidi Chukwumerije Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
ABSTURZ
Es sind mehr Menschen von Armut gefährdet Als Ihr denken würdet Ein Tag vor dem Absturz wirken sie stolz und stark Ein Tag danach schlafen sie das erste Mal im Park Entwurzelt, nimmer mehr geerdet Hoffend, bin bestimmt bald wieder autark. Ins Loch rutschen, das geht schnell Wieder heraus klettern schwer ohne Gestell Schwer ohne System offen dem Appell. Che Chidi Chukwumerije Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
DIE BESEITIGUNG VON ARMUT
Wenn die Beseitigung von Armut den Reichen obliegt, besteht darin ein Interessenkonflikt? Wenn Du reicher bist als niemand, bist Du überhaupt noch reich? Seid Ihr alle gleich reich? Vielleicht seid Ihr auch gleich arm. Wer weiß? Reichtum. Manche wollen mehr als andere haben Manche wollen einfach nur genug haben Manche wollen geben um glücklich zu sein Und empfangen um leben zu können - Aber keiner will in Armut leben Und keiner will unwürdig sterben. Che Chidi Chukwumerije Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
EIN MONATSGEHALT
Sie stand vor dem Laden
Die Distanz zwischen ihm und ihr
war genau ein Monatsgehalt
Nachdenklich lief sie weiter
Ein Paar Straßen später machte sie
vor einem anderen Gebäude halt.
Sie stand vor der Tafel
Die Distanz zwischen ihr und ihr
war genau ein Monatsgehalt.
Wenn Du schonmal oben warst
und schonmal unten warst
findest Du nur im Inneren Deinen Halt.
Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
SOLIDARITÄT MIT ALLEN SCHWÄCHEREN
Wir sollen nun kalt duschen –
Das ist bereits eine kalte Dusche,
denn nicht alle werden kalt duschen.
Im Osten führen die Russen
Krieg gegen die Ukrainer.
Aus Solidarität führen im Westen
die Reichen Krieg gegen die Armen.
Hauptsache am Ende des Krieges
sind die Mächtigen mächtiger,
die Schwachen schwächer, die Reichen
reicher und die Armen ärmer. Überall.
Wir sollen nun kalt duschen –
Das ist bereits eine kalte Dusche,
denn nicht alle werden kalt duschen.
Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
MACHT ARMUT UNSICHTBAR?
Es ist erstaunlich
wie viele Menschen
täglich an Armut vorbei gehen
ohne sie zu sehen –
Wie schafft die Armut das nur?
Mitten im reichen Land zu leben
unsichtbar in der Luft schweben
Immer größer werdend und kleiner,
verharmlost, täglich allgemeiner
Jedermann, Jedefrau, niemand.
Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
ÄRMER TROTZ ETKENNTNISSEN
Viele Menschen werden ärmer werden,
reicher nur an Erkenntnissen.
Manche Länder werden reicher werden,
ärmer jedoch in ihrem Gewissen.
Wie könnte die Zukunft derart werden,
nach all den Menschheitserlebnissen,
daß wir wieder langsam gefangen werden
in den heutigen Geschehnissen?
Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
GLEICHNIS
Mehr Menschen werden arm werden Weniger werden reich Die Armut breitet sich aus auf Erden Und macht am Ende alle gleich. Che Chidi Chukwumerije Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
RANDNOTIZ
Immer mehr Menschen sitzen nachdenklich am Straßenrand, denken über den Weg nach, der für sie endete hier am Straßenrand Wie wann wo lief es schief mit dem Geldsystem in unserem Sozialland? Das Geld verdampft wie Wasser nach Oben, hinterlässt, unten, ausgetrocknet, das Land. Und wieder überall Dichter und Denker, die versuchen vergebens mit ihrem Verstand zu verstehen, warum die Armut steigt unter Menschen, die arbeiten mit Herz und Hand. Che Chidi Chukwumerije Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
