Ich mache seit drei Maitagen Urlaub in den Bergen in Österreich und wieder spüre ich nebenbei wie immer: wo Deutschland hart ist, ist Österreich weich, wo Österreich schwer ist, ist Deutschland leicht. Hier bin ich den Deutschen fern, doch in anderer Hinsicht dem Deutschen nah. Aus sichtbarem Fleisch und unsichtbarem Kern besteht die Frucht der Eigenart der Sehnsucht. Was brodelt in diesem Drang nach Mehr? Mehr Heimat doch mehr Fremde und mehr von dem Pendeln da zwischen hin und her wie Schaukeln zwischen Polen des Verlangens, Widerhall zwischen Herz und Hand, Ferngespräche zwischen Südbergen und Nordseen, Autofahrten zwischen Österreich und Deutschland. - Che Chidi Chukwumerije Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
Deutschland
POLARISIERT
Polarisiert - Wo stehen wir als deutsches Land in dieser undeutlichen Welt? Was hätten wir lieber in der Hand? Massenwohlstand oder Elitegeld? Ein Schatten schleicht sich leise um die Häuser der Massen herum - Die Armut umschlingt die äußeren Kreise und meidet zynisch das Zentrum. Menschlichkeit ringt mit Patriotismus - ziehen wir doch alle an einem Strang. Auch wenn dabei der Geldfluss sich richtet nach Klang und Rang. Das Herz der Massen war immer tief, immer treu und immer gespalten. Versucht, gerade zu stehen, doch die Lage ist schief. Was tun? Aushalten? Ausrasten? Verwalten? - Polarisiert. - Che Chidi Chukwumerije Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
TREFFPUNKT: ZAUBER
Wo bist Du, Einwanderer? Bist Du wirklich hier? Oder bist Du noch dort, wo Du hierher gekommen bist? Denn keiner kommt wirklich an. Niemals. Wo bist Du Auswanderer? Haben die es dort kapiert, wenn Du mit ihnen redest und lachst, daß Du noch nicht angekommen bist? Denn keiner kommt wirklich an. Niemals. Wie schön der Sonnenaufunduntergang Magisch der Staffellauf der Jahreszeiten Da spricht ein Geist, den Ihr so versteht und ich anders - doch eines ist gleich: Wir sind beide gleichsam verzaubert. - Che Chidi Chukwumerije Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

MICH BEHAUPTEN
Als ich nach Deutschland kam,
starb ich –
Wie eine umgepflanzte Blume,
verdarb ich –
Um Verbindung als Gleichart vergeblich
warb ich –
Als Gespenst mitten in der Menge
stand ich –
Unsichtbar als Ich, und als Mensch
verschwand ich –
Trost bei weder Weiß noch Schwarz
fand ich –
Bis keine Farben mehr, keine Labels
sah ich –
Erst dann wie ein Ereignis mir selbst
geschah ich –
Nach dem langen Weg, wo ich verlor
beinah Ich
War ich es doch, der mich erfüllen musste –
Ja, ich.
– Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
KURSWECHSEL
Wir laufen wie ein Strom,
biegen um Berge herum –
Jeder Berg war eine Regierung
mit einer eigenen Neigung –
Ne, jeder Berg war eine Neigung
und wir nannten sie bloss eine Regierung –
Denn sie änderten ständig
den Lauf unserer Gedanken und
den Laut unserer Gedichte –
Jede korrigierte ein bisschen unseren Kurs,
geboren aus unserem innigsten Diskurs –
geborgen in unserem Herzen.
Höhen, Tiefen, Fallen, Steigen –
Und so nahm unsere Geschichte
eine Wendung nach der anderen,
ihrer fernen fernen Ziele entgegenfließend
wie ein Strom, geborgen in unseren Herzen,
namens Sehnsucht
namens Entwicklung
namens Menschentum.
– Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
DIE BERGE
Unklare Umrisse…
Die Berge falten sich in einander
Als wäre die Zeit ein Meer,
Aus dem sie wellengleich
Aufstehen, drängeln durch den Verkehr
und machen sich auf den Weg
Im Urlaubsstau Richtung Österreich.
– Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
UNSCHARF
Ausgelaugt, abgenutzt
liegt das Land ermattet, weich –
Die Republik ringt mit dem Reich.
Die Nation hat beide links und rechts gestutzt.
– Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
LAND OHNE MITTE
Die Mitte klafft sich auseinander
Die neue Mitte ist ein Vakuum
Wir fallen alle hinein
Und kämpfen erbittert um die Mitte
Worte, Begriffe, Themen
Fallen unserem Ringen zum Opfer
Am Ende wird vor allem sterben
unsere Fähigkeit zu Vertrauen.
– Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
DAS IST DEUTSCH
Wer ist deutsch?
Ich weiß es nicht.
Was ist deutsch?
Das weiß ich wohl.
Ich schaue Dir in die Augen
und ich weiß es.
Du schaust mir in die Augen
und Du weißt es.
Ganz ohne Worte.
Wir fühlen es
bis in unsere Fingerspitzen
und tief in unseren Herzen.
Alles Gute. Nur das Beste.
Solidarisch. Menschlich.
Das Beschützen der Unantastbarkeit
der menschlichen Würde.
– Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
DEUTSCHER FRÜHLING
Ich rieche im Anflug den deutschen Frühling
Er riecht wie eine Erinnerung an etwas, was noch nicht geschah
Ein bißchen wie das Dejavu, wenn der Tag das bringt
was in der Nacht im Traum bereits geschah.
Ich höre im Anmarsch den deutschen Frühling
Ich meine nicht die Vögel, deren Namen ich nicht kenne
Ich höre den ungeduldigen Ton beim Reden und Lachen
Ich höre die Ungeduld in den Schritten, als würden alle rennen.
Ich sehe in jedem Augen-Blick den deutschen Frühling
Ein Erwachen der Einsicht in eine neue Erkenntnis
Deutschland als Deutschsein erfindet sich neu, ständig
Und ist mehr als die Summe bisheriger Erkenntnisse.
– Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung