TREFFPUNKT DER NATION

Irgendwo müssen wir uns doch treffen

Wenn nicht in der Musik, dann
in der Sprache
Wenn nicht in der Wirtschaft, dann
im Sport
Wenn nicht in der Kultur, dann
in der Geselligkeit
Wenn nicht in der Geschichte, dann
in unserer Hoffnung
Wenn nicht in Schmerz und Freude, dann
in Neugier und Sympathie
und Solidarität
Wenn nicht in der Vergangenheit,
oder in der Gegenwart, dann
in der Zukunft

Irgendwo müssen wir uns doch treffen
als Nation.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

IN MITTEN DER GESELLSCHAFT

Ich greife nach der Gesellschaft
Wie ein Kind nach seiner Mutter greift
Wir ein Ertrinkender, den ein Halm streift
Wie ein Träumer nach einem Gedanken,
den er fast begreift –
Und er schleift und schleift an seinem Begreifenkönnen,
bis er nach und nach heranreift
und wird selbst zur Antwort seiner eigenen Frage
und einem neuen Teil seiner Gesellschaft.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

MITSPRACHERECHT

Der Adler fliegt auch für mich
Und sagte mir
Ich bin der Widerhall auch Deiner Inneren Stimme
Wenn Du willst –
Du musst nur laut genug reden
Mitreden
Und Dich nie mundtot machen lassen.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

DEUTSCHSEIN UND ICHSEIN

Wie viele Grenzen habe ich überquert
Auf der Zugreise von Frankfurt nach Berlin?
Die Hauptfrage war anfänglich:
Bin ich Deutsch genug, um Mensch sein zu dürfen
Auf deutscher Bühne?
Jeder Frage gebar eine Folgefrage,
Bis am Schluß die Frage lautete:
Ist Deutsch Mensch genug, um mich gewähren zu lassen
Im deutschen Wesen?

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

UNTER DEM SCHUTZ DER MACHT

Wie viel Macht
ist zu viel Macht?
– gib Acht!

Während sich Links und Rechts
gegenseitig neutralisieren im Gefecht
kommt das neue Schutzgesetz.

Am achtzehnten gib Acht.
Macht ist die Macht zu entmachten.
Schutz wird den Schutz nicht vor dem Schutz schützen.

Gib Acht.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

SIND WIR DAS VOLK ALLE?

Die Gesellschaft ist geteilt –
Beide Seiten schreien
Frieden! Freiheit! und wollen
beide keine Diktatur.

Ich stehe in der Mitte und
habe den vagen Eindruck,
die streiten über etwas ganz anderes,
als sie sagen. Oder sagen können.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

PUZZLETEILE DER MENSCHHEIT

Ich komme aus einer Welt,
die mich nicht versteht
und lebe in einer Welt,
die mich falsch versteht,
weil ich in der ersten Welt zur zweiten
und in der zweiten Welt zur ersten
angeblich gehöre oder gehören sollte.

Äußerlich unterdessen
kämpfe ich in der ersten Welt für Rechte,
die es in der zweiten gibt,
und in der zweiten für Rechte,
die es in der ersten gibt
und frage mich, ob sie sich je
in der Mitte treffen werden.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

LOCKDOWN

Wie die Augenlider eines müden Wesens
schließt ein Laden nach dem anderen
bis das ganze Land eingeschlafen ist und
durch Mund und Nase nur noch gedämpft schnarcht.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

NEULAND

In den Brillen meiner Mitmenschen
erkenne ich, täglich,
daß ich noch Neuland betrete –
Lange nach dem ich Fuß fasste.

Der überraschte Blick überrascht mich
Der irritierte Blick motiviert mich
Der verwirrte Blick ist klarer als gedacht
Klarer noch als der böswillige Blick.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

ANKUNFT

Einst warst Du mir fremd, Land
Eine hohe ungefallene Wand
Wenig Herz, viel Hand
Trügerischer Treibsand
Ich hockte am Rand
Und wusste nicht, wovor ich stand:
Wahrem Wesen oder bloßem Gewand.

Doch der Schmerz ist das beste Asyl
Ich empfinde tiefer als mein Gefühl
Lasse los und spiel nur noch mein Spiel
Die Integration war nicht mehr mein Ziel
Nur die Ehrlichkeit macht stabil
Länger dauerte es danach nicht viel
Und die Mauer fiel.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der deutschen Dichtung