GRAFFITI

Wie viel Drang,
wie viel eingesperrtes, angestautes
geistige Leben zwang
die Seele dazu, derart intensiv Lautes
gegen die Weltenwände zu schreien
wie ein Hilfe- und Sucheruf aller Unfreien?

Sie tobt und tobt und tobt sich aus
ohne Befriedigung -
Sie wird erwachsen, verlässt das Elternhaus,
zwingt sich zur Ermässigung.
Wartet nun Jahre später hier auf die Sbahn
und starrt schweigend ihre alten Graffitis an.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

VERLORENE KINDLICHKEIT

Am Tor ins Weihnachtsland
blieb ich stehen und wurde blind,
denn hinter der Schwelle sah ich nichts von all den Dingen, die dahinter sind.
Und ich schüttelte leicht den Kopf,
erstaunt, daß ich davon nichts mehr empfind;
denn vor langer Zeit wohnte auch ich
in jenem Land als Kind.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

IM SPIEGEL SUCHEN

Ein Junge lief nach langer Wanderung Heim
um seinem Vater zu erklären,
warum er fort gegangen war –
Doch der Vater war mittlerweile schon gestorben,
ohne erfahren zu haben…

Daß sein Sohn gegangen war
auf der Suche nach ihm, dem Vater,
und irrte so lange herum, bis er
die Stimme des Vaters in seinem Herzen vernahm –
denn er war nun ein Mann geworden.

Er schritt nun durch die Tür hinein
Das Haus war leer
An der Wand stand ein Spiegel
Er schaute lang in das Glas hinein
und die Augen seines Vaters, sie schauten zurück.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

DEN HERBST VERSTEHEN

Manchmal musst Du gelebt haben
Und gestorben sein
Um den Herbst zu verstehen
Um genüßlich Dich an trocknem Wein
Nachdenklich zu laben
Am Abend Deines neuen Seins
Weder dem Sommer nachsinnen
Noch den Winter vorspinnen
Nur Herbst in Dir singen lassen
Und wenn Du äußerlich unbeweglich scheinst
Denn nur weil Du der erwachsen gewordene
Stabile ruhige Krug
Der alles ertrug, geworden bist
In dem heute die tobende Brandung
Ihre Verankerung sucht.

Che Chidi Chukwumerije
2019: Das Jahr der deutschen Dichtung

ES WAR EINMAL EIN KIND

Ich war das Kind, das starb
Weil ein Erwachsener Klugheit erwarb
Die seiner Reinheit Sinn verdarb…

Ich war das Kind, das ertrank
Im Erwachsenen Durst langsam versank
Still liegend unten im Tank

Ich bin die Erinnerung eines Kindes
Ahne ich, doch ich find es
Nirgendwo mehr in mir und indes

Sind mir die Jahre vorbeigeflogen
Der Bogen war grad, der Pfeil ist verbogen
Suchend das tote Kind einst betrogen.

Che Chidi Chukwumerije
2019: Das Jahr der deutschen Dichtung

40 ALS GRENZE

Wann wirst Du endlich erwachsen?
Mit 14? 16? 18? 21?
Ab 30 ist die Frist fast abgelaufen
Denn das Leben endet mit 40

Willst Du jenseits 40 überleben
Musst Du tapfer neugeboren werden
Sonst ist der Rest Deines Lebens,
Ob lang oder kurz, nur ein Sterben.

Che Chidi Chukwumerije
2019: Das Jahr der deutschen Dichtung

ERWACHSEN

Karg sind die Bäume
Karg geschoren meine erwachsenen Träume
Silhouetten in der Nacht
Stille Post, stille Fracht

Das Kind in mir redet, doch geschwind
Der vorbei flüsternde Dezemberwind
Nimmt die Hälfte seiner Worte mit
Überläßt dem Erwachsenen somit nur ein Bit

Erinnern tut er sich nicht mehr
An mehr als ein wenig Inhalt da und hier –
Nicht das Kind an sich ist jetzt erwachsen
Sondern dem Kinde wurde entwachsen

Das eine schwebt im Licht und entfernt sich immer mehr
Der andere, im Dunkel, grübelt, schwer, leer
Wie er die Weltprobleme lösen kann
Die er selber erschuf und ersann.

– Che Chidi Chukwumerije.