DER FLÜCHTLING

Während er von Grenzpolizei
zu Grenzpolizei flüchtete, brauchte er
eine innere Heimat – am Anfang war die Hoffnung
sein Fluchthafen, aber als sie nach und nach
im Wirrsal der Ablehnung und Beleidigung
langsam umgestülpt wurde,
wuchs Erinnerung zur Herzscholle,
auf der er heimatlich wohnte, jedes Mal,
wenn er die Augen schloss.

Wie durch eine Lorgnette
aus der Ferne erblickte er die Sippschaft,
drollig, imponierend, … entrückt, abstrakt,
referierend fast über eine verlorene Welt.
Das Kind in seinem Herzen kannte sie,
er aber nicht mehr. Er wischte
die nassen Schuppen von seinen Augen
und pflügte voran wie ein Fischkutter
in kalten Gewässern – wahrlich Heimatlos.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

FLUCHT VOR FLUCHT

Flucht, vor Einsamkeit.
Einsam, vor Flucht.

Flucht, vor Anfeindung.
Angefeindet, wegen Flucht.

Flucht, vor Hoffnungslosigkeit.
Hoffnungslos, vor Flucht.

Flucht, vor Tod.
Tot, wegen Flucht.

Flucht, vor Überfremdung
Flucht, in die Fremdenfeindlichkeit
Verfremdet, wegen Flucht
Teufelskreis der Geschichte, verflucht!

Der Fluch ist die Frucht der Flucht
Vertrieben, in die Flucht
Menschheit, nein Menschlichkeit, flüchtet
Und keiner fühlt sich Zuhause mehr.

Ich bin Flüchtling
Du bist Flüchtling
Getrieben, gegen die Flucht
Wir sind die Frucht.

Che Chidi Chukwumerije
2019: Das Jahr der deutschen Dichtung