DER NEBEL UND DER FLUSS

Es gibt keinen Unterschied zwischen
dem Nebel und dem Fluss
Der Main fühlt sich heute ein bißchen
so an wie ein Gefühlserguss
lässt sich nicht trennen von unserm Sinnen
Der Fluss ist da draußen, der Fluss ist hier drinnen
Der Herbst ist ein Genuss.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der deutschen Dichtung

FLUGS

Flugs hüpfen
wir von Frankfurt nach München
ein Flugzeug
voller Gedanken und Menschen
die besuchen
die Wolken im Himmel ein bisschen
doch verlassen
nie den Boden der Tatsachen.

Unsere sieben Sachen
im Gepäck, und Lachen.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

BAHNHOFSVIERTEL 1

Eine Wechselstube am Hauptbahnhof
Der bedrückend foulste Gestank trat ein
Alle Kunden drehten sich erschrocken um
Starrten irritiert murmelnd die Quelle an

Eine Weiße drückte die Hand vor die Nase
Eine Asiatin drückte die Hand vor die Nase
Ein Araber drückte die Hand vor die Nase
Ein Schwarzer drückte die Hand vor die Nase

Der Verursacher des üblen Gestanks
Holte etwas vom Schalter, ging wieder
Er war weder weiß noch asiatisch
Noch arabisch noch Schwarz

Er war obdachlos.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

FRANKFURTS ERSTER SCHNEE

Ich sah Frankfurt
intimer als je zuvor
Ich liebte sie sofort
obwohl ich dabei fror
in ihrem engen Brautkleid
in ihrer Freude, in ihrem Leid
lautlos leistend unseren Eid.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

FRANKFURT NEU OHNE ALT

Unter der Fassade Frankfurts
Lebt Frankfurt
Wir zombien wie Schlafwandler auf einer Hülle herum
Getrennt von seinem Ur-Inhalt durch
Sich ständig verändernde Form
Mit keinen Augen im Hinterkopf.

Unter wie vielen Strukturen
Leben alte Gebäude?
Wie viele Brücken verbinden Heute
Mit einem kaum noch vorstellbaren Gestern?
Hinter wie vielen Gesichtern
Schweigen Gedanken früherer Geister?

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

ZARTE BINDUNGEN

Mein Frankfurt
Nach dem es lange mich nicht haben wollte
Anscheinend
Will es mich jetzt nicht mehr gehen lassen
Anscheinend

Es sind diese unerklärbaren Gefühle
die mich zart fesseln
So wie einst unerklärliche Gefühle
mich subtil ausgrenzten.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

FRANKFURT FLIESST

Diese Stadt
lange mir verschlossen
öffnest Dich mir unerwartet tief und zart.
Wer hätt‘s gedacht? Wir sind Artgenossen.

Wie viel Vielschichtigkeit haben wir gemeinsam?
Wer unser Inneres erreichen will
der muß ehrlich sein und geduldig und einsam
und egal wie laut nebenbei auch still.

Und am allerbesten ist der Fluß
dessen Anfang und Ende keiner sieht
Viele starren hinein und fassen den Entschluss
dem ebenso zu folgen, der sie anzieht.

So fließen wir weiter mit,
bauen weiter, wachsen immer weiter -
Wir sind der Welt der Querschnitt
und unserer Zukunft die eigenen Wegbereiter.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

AN DRIBDEBACH

Ich möchte meine Geschichte
wie Fußabdrücke in die Erinnerung
der Stadt eingravieren
ohne daß die Stadt es merkt -
Denn sie verhindert alles, was sie wahrnimmt.

Ich möchte, daß sie einmal in der Zukunft
sich umschaut und fragt, laut,
Seit wann habe ich diese Muttermale
unter und auf meiner Haut?
Meine Antwort: Ein Grabstein mit einem Kreuz.

Ich wurde nicht hier geboren
möchte aber hier sterben
wenn das letzte Gedicht geschrieben ist
alles, was ich habe, schon gegeben wurde
und nichts mehr von mir geblieben ist.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

FEBRUAR SPAZIERGANG

Kalt, klar, karg der Tag
eisig braun der Erde
winterberuhigter Belag
mit dünnschichtiger Zierde

Winter will seine Zeit
Frühling drängt schon auch
Wolkengrau im Himmel breit
Tief grün in seinem Bauch

Bin ich Teil dieser Welt
oder Fremder auf Durchreise?
Wenn keiner ein Wort fällt
sind wir ähnlich leise

Bäume stehen menschengleich
schauen gleich, schweigen gleich
Wie so oft im Naturreich
außen hart, innen weich.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

ZÖGERND

Eher zögernd kam
Wieder
Der Frankfurter Schnee
Über
Stadt, Land, Fluss
und Liebe

Zuckte kurz, nicht mal heftig
Einmal, zweimal, scheu, bedächtig
Auch eine zarte Liebesbekenntnis
verschwindet niemals aus dem Gedächtnis.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung