TIEFER ALS BLUT

Viele werden kommen und wieder gehen,
viele Ausländer aus Ländern und Begriffen,
denn fremdsein liegt nicht nur im Aussehen -
das besonders Fremde sitzt nicht in Schiffen.

Es sind Gedankenformen und Empfindungen,
die uns anfassen, auffassen und erfassen,
die uns einspannen in neue Verbindungen -
die wir nicht fassen - eher sie uns wieder verlassen.

Ihr denkt, daß Blut das tiefste ist…
Ihr irrt gewaltig; tiefer verankert als Blut
liegt der Boden, wo das Tatsächliche sitzt:
Fremdes, Eigenes, Geist, Hab und Gut.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der deutschen Dichtung

VERÄNDERUNG

Wenn ich der deutschen Gesellschaft
alles gebe, alles schenke, was ich bin,
was ich als Mensch wirklich im Kerne bin,
werde ich dann zum Teil der Gesellschaft?

Ist deshalb die Angst?:
Denn wenn ich zum Teil der Gesellschaft werde,
hätte ich die Gesellschaft nicht dadurch verändert?
Aber hätte die Gesellschaft mich nicht auch verändert,
wenn ich zu einem Teil von ihr werde?
Wieso denn die Angst?

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der deutschen Dichtung

WER KENNT SICH SELBST WIRKLICH?

Eine dieser Nächte
Wo ich mein eigenes Herz nicht kenne…
Es kommt mir entgegen
Und ich renne und renne und renne und renne
Weil ich es für einen Fremden halte
Und nicht als mein eigenes Herz erkenne.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der deutschen Dichtung

IM FREMDEN

Als ich die Treppe hinunter stieg
in den Keller, in mich, in den Krieg,
brauchte ich eine andere Stimme,
eine Sprache, die das Schlimme
in der Welt anders sah und beschrieb
als ich es bisher sprachlich betrieb -
So sprach sich aus mir eine dritte Lunge
in einer neuen, fremden, deutschen, Zunge,
denn wenn Du Dich besser sehen willst
musst Du Dich durch fremde Augen reflektieren,
und wenn Du Dich selbst tiefer verstehen willst
musst Du Dich in einer fremden Sprache artikulieren.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der deutschen Dichtung

FLUSSBLATT

Ich bleibe Ausländer
Flügel äußerer Ränder
Ein Blatt auf dem Fluss
vorbeifließend. Ein Gruß
aus der Ferne, missverständlich
stets beobachtend nachdenklich
Sichtbarer Blitzableiter
für Neugier
für Habgier
für Freundlichkeit
für Feindseligkeit
Ein Aussenseiter.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der deutschen Dichtung

FREMDE STADT

Ich laufe durch die Stadt.
Ich spaziere durch die Gefühle der Passanten
Und sehe diese an ihrer Statt.
Ihre Gefühle sind Weltwanderer, sind Migranten.
Die Menschen hier sind mir zwar fremd und neu,
doch ihre Gefühle gleichen mir Bekannten, detailgetreu.

In den einen Augen unzählige Fragen;
In den anderen: Ich habe hier das Sagen;
In anderen: Du bereitest mir Unbehagen,
Du hier? - Wie konntest Du das wagen?

In den einen Augen tastende Unsicherheit;
In den anderen Sehnsucht nach Wahrheit;
In anderen Erkenntnis der Mitmenschlichkeit;

In den einen Augen klarer Verbindungsverzicht:
Ablehnung oder Gleichgültigkeit? Weiß ich nicht.

Doch manche sind einfach nur scheu.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der deutschen Dichtung

HERZBRAND

Unter Fremden Zuhause
Unter sich der Fremde
Unterwegs ist die Pause

Stillstand, unruhige Hände
Schlaflos, klare Gedanken
Im Herzen Waldbrände

Dein Herz wird Dir danken
Lässt Du es gehen bis zum Ende
In Sich-verbrennen Ruhe tanken.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der deutschen Dichtung

DER ERSTE EINDRUCK VERFEHLT

Die üblichen Blicke,
wenn er vielerorts erscheint,
eine schwere, harte, dicke
Spannung, die alle dort vereint
auf einer Seite, er allein auf anderer,
mehr als nur ein fremder Einwanderer.
Ein Unterklässler, vielleicht ein Feind.

Der erste Eindruck verfehlt.
Unser Land ist nun voller Schrott.
Der erste Eindruck quält.
Eine hämische Portion Spott,
ein klammer Unterton der Feindseligkeit.
Wäre jetzt tückisch jede Art Geselligkeit?
Das weiß nur der Liebe Gott.

Er spricht, macht, weder langsam noch flott.

Er scheint die Spannung nicht zu merken,
und doch scheint sie ihn dadrin zu stärken,
weiter zu sprechen mit Worten und Werken.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

GETEILT

Meer trennt uns als Sozialisierung
Mentalität wirft ihre eigene Schattierung
Welten wandeln verwirrt nebeneinander
Worte scheren in ihrer Bedeutung auseinander
in unseren Gesten in unseren Gästen
in unserer Deutung gefangen noch im Gestern…

Wir sehen und schaffen in anderen die Feinde
die uns wie programmiert anfeinden -
Diese Welt ist noch kein Gemeinde,
denn sie ist geteilt in Freunden und Feinden.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

FREMDE KULTUREN

Diese merkwürdigen Momente,
in denen eine fremde Kultur zu Dir spricht
und in Dir jemand sich angesprochen weiß,
der ein Teil Deines Innersten ist
aber meistens in mitten Deines Innigsten schweigt,
als wärest Du zwei Menschen ein Gesicht -
ein Einheimischer und ein Fremder -
gleichzeitig, und Du wusstest es bisher nicht.

Ihre Augen wecken unzählige Erinnerungen,
an die Du Dich nicht mehr erinnern kannst,
diese fremden Menschen, die Dir vertraut sind,
als hättet Ihr schon Lebzeiten zusammen getanzt,
ja, schon ganze Leben gemeinsam gelebt,
erlebt, gelernt, geliebt, Samen gepflanzt,
die Inkarnation nach Inkarnation nach Inkarnation
Früchte tragen, aus denen Du Toleranz tankst.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung