BLEIB EIN KIND

Bleib ein Kind
Mach in Deinem Garten Raum
für jede Blume, die auftaucht
Gib ihr eine Ecke für ihren Traum

Wenn sie aus ihrem Traum erwacht,
stark, klar, reif und erwachsen,
kannst Du sie woanders umpflanzen
zum gedeihen und weiter wachsen

Bleib ein Kind
Keine Trauer, kein Gedicht, keine Sehnsucht
ist zu unwichtig für Deine Liebesmühe
Erfülle alles mit Feenstaub und Sehnflucht

Es war einmal ein Kind
das lebte und spielte und liebte
und weinte, und liebte weiter und lachte
Und die Welt besiegte.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der deutschen Dichtung

MUTTER LOS

Du warst so weit weg
Die Milchstraße selbst war näher
Du warst so weit weg
So weit der Weg, so weit das Meer,
Kein Strand, kein Landungssteg
Keine Hand, kein Trost mehr

Wir schwammen schwammen schwammen
Durch Qualen Ängste Krisen Dramen
Grübelten über ein unerklärliches Karma
Beteten: Mama Mama Mama -
Wo bist Du?… Wo ist sie? Amen.
Wann sind wir alle wieder zusammen?

Du warst so weit weg
Dann kamst Du plötzlich wieder näher
Wir waren schon so lange unterwegs
Ich erkannte Dich nicht mehr.
Ankunft. So fremd dieser Landungssteg -
Ich bleibe innerlich leer.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

SPIELENDE KINDER

Die blauen dünngeschnittenen Windscheiben -
Das Mädchen, wenn ihre Finger ihre Augen reiben,
sieht den Wind vorbeilaufend in allerlei Gestalt.
Nichts ist vielfältiger als die kindliche Einfalt.

Es dreht sich zum Jungen neben ihr, leidenschaftlich
erzählend von blauen Windscheibchen selbstverständlich.
Er korrigiert sie freundlich, Ja sie sind dünn
Aber blau sind sie nicht, sieh doch: sie sind blaugrün!

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

DES KINDES SINN

Wir lagen im Gras
und im Gras liegen war das
Maß aller Dinge, es war der
Sinn des Lebens. Wir, ich und er -
der Lebenssinn - waren wie
die allerbesten Freunde, nie
zu trennen voneinander in
Allem, was und wo ich je gewesen bin
als Kind - beim Lesen, beim Spielen, beim
Essen, Schlafen, Streiten daheim,
beim Träumen beim Zimmer aufräumen,
beim alles Andere versäumen
während ich spielte auf einem Instrument.
Alles, was ich tat, war in jenem Moment
der Sinn des Lebens für mich,
erfüllte mich, machte mich glücklich.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

DORFKIND

Äußerlich Stadt
Innerlich Dorf
Dein Mund lacht mit
Deine Augen sind ruhig beobachtend
So schön die Stadt ist
So gut Du sie trägst wie einen Mantel
Ich sehe es trotzdem
Es hängt über Dir wie eine unsichtbare Sonne
Und leuchtet aus Dir heraus
wie eine unsichtbare Sonne…
rustikal, gesund, stabil, altmodisch –
Das Dorf.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

DU-ETT

Wärest Du ein Lied,
wer hätte Dich gesungen?
Wer hätte Dich komponiert?
Wer hätte Dir Deine Melodie abgerungen,
die im Kind als Freude gejubelt,
in der Jugend von Sehnsucht bezwungen,
im Erwachsenen im Kampf gewütet,
im Greisen als Nachdenken ausgeklungen?

Duett.
Du und das Gesetz
der Wechselwirkung.
Euch ist zusammen Dein Lied gelungen.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

DU WIRST DEINE ERMORDUNG VERGESSEN

Das Ding mit Sterben ist,
daß Du es vergisst –
Irgendwann als Erwachsener
blickst Du suchend zurück
vergeblich nach dem trennenden Moment
zwischen Dir und Deinem Glück.

Dieses Rätsel wird Dich begleiten
den Rest Deines Lebens:
Wie könnte ich so leise sterben
ohne Anzeichen eines Erdbebens?
Wer oder was hat mich wann getötet?
Du suchst die Antwort … vergebens.

Das Kind starb mit seinen Erinnerungen
Der Jugendliche starb mit seinen Idealen
Der Erwachsene bleibt mit seinen Fragen.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

EIN STINK NORMALER ABEND

Kinderstimmen wie Straßenschilder
Ihr Lachen wie Laternen in der Nacht
Ihre Augen spiegeln vergessene Bilder
aus meiner Vergangenheit aufgewacht

Auch ich habe einst so glücklich gespielt
mit einem Bruder – der lebt nicht mehr.
Im Wirbelsturm der Erinnerung aufgewühlt
wird mir das Schwere leicht und das Leichte schwer.

Der heutige Abend ist so stink normal
Ihr werdet ihn wahrscheinlich vergessen –
Und doch ist Normal dafür ideal,
zu bleiben für immer unvergessen.

Ein Wort wird reichen, oder ein Lied
Ein Lachen, ein Geruch, der Euch mit uns verband –
Nach dem Euer Elternpaar lang verschied
und dieser Alltag für immer verschwand.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

AUFGEWÜHLT

Heute bin ich müde
und kann nicht schlafen –
Gestern schlief ich
und war nicht müde.

Heute bin ich reifer
und brauche die Kindlichkeit
Gestern war ich ein Kind
und brauchte mehr Reife

Heute habe ich Essen
doch ich bin nicht mehr hungrig
Jetzt habe ich Durst
denn ich verbrenne innerlich.

Doch ich bin nicht allein
Auch der Planet ist aufgewühlt
und Flüchtlinge irren herum
und die Politik ist verunsichert.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

DAS WESENTLICHE

Papa, Du bist
fast nie Zuhause –
sagte mir heute Morgen mein Sohn.

Aber ich hörte:
Papa, Du bist nie da.

Und ich dachte an die Demos,
dachte an die Arbeit und an die Treffen,
an die Zukunft, die ich ihm bereiten wollte…

Und ich fragte mich:
War es das alles Wert?

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung