DES KINDES SINN

Wir lagen im Gras
und im Gras liegen war das
Maß aller Dinge, es war der
Sinn des Lebens. Wir, ich und er -
der Lebenssinn - waren wie
die allerbesten Freunde, nie
zu trennen voneinander in
Allem, was und wo ich je gewesen bin
als Kind - beim Lesen, beim Spielen, beim
Essen, Schlafen, Streiten daheim,
beim Träumen beim Zimmer aufräumen,
beim alles Andere versäumen
während ich spielte auf einem Instrument.
Alles, was ich tat, war in jenem Moment
der Sinn des Lebens für mich,
erfüllte mich, machte mich glücklich.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

ALTE FREUNDE

Wie oft sah ich diesen Sonnenuntergang,
einen Freund meines Staunens
und meines Träumens,
meines Ruhigseins jeden Abend -
Er war umrahmt aber nicht mit Eichen und Tannen,
sondern mit Irokos und Palmen und
bildete den Hintergrund zu meiner Kindheit
am Äquator.

Nie hätte ich gedacht,
daß Jahrzehnte später eben er
mein Halt und mein Trost sein würde,
meine Orientierung hier oben im Norden -
Wo weder der nördliche Stern noch
die Nordlichter mir den Weg nach Hause
weisen konnten,

hast Du - schöner Sonnenuntergang -
mich zu mir zurück geführt,
umrahmt von Tannen und Eichen
und langsamer geworden
aber Du bist es noch. Du bist es noch.
Kinder erkennen immer ihre Freunde.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

KINDERSTIMMEN

Kinderstimmen
Ein paar Stunden abends
bevor sie ins Bett verschwinden

Kinderstimmen
Ein paar Jahre eilends
bevor sie aus dem Haus ausziehen
und als Erwachsene zu sich finden

Kinderstimmen
stehend bleiben nirgends –
Dein Herz ist ein Schlafzimmer
Es war einmal ein Kinderspielzimmer –
Kannst Du des Kindes Stimme noch empfinden?

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

EIN LEBEN KURZ EIN LEBEN LANG

Manch ein Mensch
lebt bis ins hohe Alter
nur um zu erfahren, daß
er bereits als Kind starb
und sein ganzes Leben lang
tot war.

Manch ein Mensch lebt lang genug
um zu begreifen, daß sein Leben kurz war.

Doch manch einer überlebt seine Kindheit,
gestärkt durch Liebe oder gewonnenen Kampf
und selbst wenn er jung stirbt,
hat er länger gelebt als alle anderen –
und länger noch wird er leben…
ein Licht für alle Ewigkeit.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

VERLORENE KINDLICHKEIT

Am Tor ins Weihnachtsland
blieb ich stehen und wurde blind,
denn hinter der Schwelle sah ich nichts von all den Dingen, die dahinter sind.
Und ich schüttelte leicht den Kopf,
erstaunt, daß ich davon nichts mehr empfind;
denn vor langer Zeit wohnte auch ich
in jenem Land als Kind.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

BEWAHRE DEINE KINDLICHKEIT

Kann es sein, daß
Kinder aus der Zukunft kommen,
in die Gegenwart geboren werden und
in der Vergangenheit sterben?

Wir wissen als Kinder mehr
als wir verstehen,
ringen als Erwachsene mit der Diskrepanz
zwischen Wissen und Verstehen –
Und sterben als Greise, die
weniger wissen als sie
vorgeben, oder glauben, zu verstehen.

Für manche fängt das Leben mit vierzig an
Für manch andere ist es mit vierzig
schon längst getan.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

DER DRUCK DES FRÜHLINGS

Wie ein Neuling
springt der Frühling
aus der Fantasie der Natur herraus,
tobt sich entzückt, zögernd, aus
wie ein kleines neues Kind zu Besuch,
begeistert von jeder Sicht, jedem Geruch,
alles aufsaugend und wiedergebend,
zu spät jeder Morgen, zu früh jeder Abend,
ahnend flüchtig, daß die Kindheit
mit all ihrer magischen Schönheit
die kürzeste Zeit ist der Lebenswanderung…
bleibt aber am längsten in der Erinnerung.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

EIN STINK NORMALER ABEND

Kinderstimmen wie Straßenschilder
Ihr Lachen wie Laternen in der Nacht
Ihre Augen spiegeln vergessene Bilder
aus meiner Vergangenheit aufgewacht

Auch ich habe einst so glücklich gespielt
mit einem Bruder – der lebt nicht mehr.
Im Wirbelsturm der Erinnerung aufgewühlt
wird mir das Schwere leicht und das Leichte schwer.

Der heutige Abend ist so stink normal
Ihr werdet ihn wahrscheinlich vergessen –
Und doch ist Normal dafür ideal,
zu bleiben für immer unvergessen.

Ein Wort wird reichen, oder ein Lied
Ein Lachen, ein Geruch, der Euch mit uns verband –
Nach dem Euer Elternpaar lang verschied
und dieser Alltag für immer verschwand.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

DAS WESENTLICHE

Papa, Du bist
fast nie Zuhause –
sagte mir heute Morgen mein Sohn.

Aber ich hörte:
Papa, Du bist nie da.

Und ich dachte an die Demos,
dachte an die Arbeit und an die Treffen,
an die Zukunft, die ich ihm bereiten wollte…

Und ich fragte mich:
War es das alles Wert?

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung