ICH SPÜRE DEINEN SCHMERZ

Ich spüre Deinen Schmerz, Sohn;
Ein Teil von mir will ihn Dir wegnehmen.
Die schluchzende Brust Deiner Emotion
ist normal, dafür musst Du Dich nicht schämen.
Ein Teil von mir will ihn Dir aber lassen,
denn jeder muss einmal durch den Schmerz
zum Reifen gebracht werden. Fassen
kann‘s nur später, viel später, Dein Herz.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der deutschen Dichtung

MUTTER LOS

Du warst so weit weg
Die Milchstraße selbst war näher
Du warst so weit weg
So weit der Weg, so weit das Meer,
Kein Strand, kein Landungssteg
Keine Hand, kein Trost mehr

Wir schwammen schwammen schwammen
Durch Qualen Ängste Krisen Dramen
Grübelten über ein unerklärliches Karma
Beteten: Mama Mama Mama -
Wo bist Du?… Wo ist sie? Amen.
Wann sind wir alle wieder zusammen?

Du warst so weit weg
Dann kamst Du plötzlich wieder näher
Wir waren schon so lange unterwegs
Ich erkannte Dich nicht mehr.
Ankunft. So fremd dieser Landungssteg -
Ich bleibe innerlich leer.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

ALLEINERZIEHEND

Schreibt Protokoll
Geht einkaufen
Schiebt Überstunden
Hält das Büro am Laufen

Geht Kompromisse ein
(F)Akten balancierend
Deadlines frühzeitig haltend
Schlüsse akzeptierend

Schaut immer wieder auf das Handy
Steht plötzlich auf
Ich muss jetzt zu meinen Kindern
Ich mache den Rest von Zuhaus

Kurz nach Mitternacht
Nochmal eine letzte Mail
Sitzt morgen wieder lachend im Büro
Mit müden Augen parallel.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

NICHT MEHR LANGE

Wie schnell Ihr wachst
Eure Augen sprechen Volumen
Eure Worte navigieren kluge Gedanken
Auf den Weg zu mir
Ich sehe es in Euren denkenden Augen -
Wie lange noch, bis ich Euch nicht mehr
Meine Kinder nenne
Sondern meine Erwachsenen?

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

180GRAD

Ich schaue sie an
frage mich
wie das möglich ist:
Die Wandlung von einer wilden Nachtfee
in eine vierfache Alleinerziehende
die lächelt, gähnt und sagt:
Sex ist überbewertet.

Che Chidi Chukwumerijee
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

FAMILIENVATER

Bin schwach heute
finde aber in meiner Umgebung keinen Platz
für das schwache mich.

Alle sehen mich mit Augen an
die mich wissen lassen, daß ich für sie stark bin
und stark sein muss.

Deshalb bin ich stark
auch wenn ich schwach bin
besonders wenn ich schwach bin.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

DAS WESENTLICHE

Papa, Du bist
fast nie Zuhause –
sagte mir heute Morgen mein Sohn.

Aber ich hörte:
Papa, Du bist nie da.

Und ich dachte an die Demos,
dachte an die Arbeit und an die Treffen,
an die Zukunft, die ich ihm bereiten wollte…

Und ich fragte mich:
War es das alles Wert?

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

DU WIRST STRAUCHELN

Halte inne, und sei gewiß
den Fehler Deiner Eltern wirst Du wiederholen
Wissen ist Macht
DIESES Wissen allein wird Dich retten
kurz bevor Du fällst –

Es gibt einen Grund warum
Afrika sich ständig wiederholt
Europa sich ständig wiederholt
Deutschland sich ständig wiederholt
trotz allen Bemühungen zum Anderswerden.

Den Fehler machen die, die ihre Eltern
irrtümlicherweise für ihre Vergangenheit halten,
nicht ahnend: die sind Eure Zukunft
ruhig gärend in Euch wartend –
Nur dieses Wissen wird Euch retten.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

ELTERLICHE LIEBE

Was ist der Sinn dieses Lebens,
meine Kinder, und meines Strebens?
War alles Sorgen nicht vergebens?

Ich wünsche, ich könnte Euch mehr geben
Mehr Zukunft, mehr Führung, mehr Leben
Mehr Wissen, mehr Schutz, … Alles eben.

Eltern erkennen irgendwann ihre Machtlosigkeit
Alles, was wir Euch geben können, ist die Vergangenheit
Schöne stärkende Erinnerungen für alle Ewigkeit.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der deutschen Dichtung

ODEM

Als ich im Dunkeln
Dem Atmen meines Sohnes lauschte
Dachte ich an meinen Vater
Der nachts gerne wach lag
Vielleicht saß er auch so neben mir
Und lauschte
Und ich denke an meinen Sohn
Und frage mich, ob er eines Tages
Auch genau so sitzen wird
Dem Atmen seines Kindes in der Nacht
Lauschend und sich dabei wundernd
Ob sein Vater einst auch seinem Atmen
Lauschte in der Nacht.

Che Chidi Chukwumerije (15.01.2020)
Im Jahrzehnt der deutschen Dichtung
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