Hatte jeder obdachlose Mensch früher mal ein Dach über dem Kopf? Ging in den Kindergarten, zur Schule, kannte Familie, Wärme, Mamas Topf? Spielte mit anderen Kindern sorgenfrei, träumte vom tollen Erwachsenenleben? Stellte sich dann stolz und zuversichtlich deren Herausforderungen und Streben? Was, wann, wo, warum lief es schief? Mein bester Freund, Deine Schwester gar. Ein Vater, Nachbarn, die alte Klassenlehrerin. Eine tiefe Bindung macht aus uns allen eine Schar. Dieses Verbindende ist unsere Vulnerabilität - Sie verpflichtet uns zur wachen Mitmenschlichkeit, Denn keiner ist ganz sicher vor dem Abrutschen über den Rand und in die Obdachlosigkeit. Che Chidi Chukwumerije Im Jahrzehnt der deutschen Dichtung
Obdachlos
BAHNHOFSVIERTEL 1
Eine Wechselstube am Hauptbahnhof Der bedrückend foulste Gestank trat ein Alle Kunden drehten sich erschrocken um Starrten irritiert murmelnd die Quelle an Eine Weiße drückte die Hand vor die Nase Eine Asiatin drückte die Hand vor die Nase Ein Araber drückte die Hand vor die Nase Ein Schwarzer drückte die Hand vor die Nase Der Verursacher des üblen Gestanks Holte etwas vom Schalter, ging wieder Er war weder weiß noch asiatisch Noch arabisch noch Schwarz Er war obdachlos. Che Chidi Chukwumerije Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
TAGE DER KÄLTE
Im Winter schreibt die Straße
ihre härtesten Gedichte
Wieder ein Obdachlose erfroren
mundtot in der Stadtgeschichte
Die Nachrichten schreien
darüber ein paar Tagesberichte
Die Politik zeigt sich bestürzt –
das, wozu sie sich verpflichte.
Die Bewohner und Benutzer
der Straße, ihre eigenen Gerichte,
wussten‘s schon immer, die Kälte
richtet ihn eines Tages zunichte.
Niemand rief den Kältebus
doch die waren keine Bösewichte
Die Kälte zieht uns die Wärme ab,
die ihr Ertragen ermöglichte.
Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

MITTE
Irgendjemand geht immer leer aus
Manche gehen unter die Brücke
Manche gehen nach Haus
Es wohnt eine Lücke
in unserer Mitte.
Fehlende Sitte.
Eine Bitte.
Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
WANDELN
Wie landet man
Wie strandet frau
Auf der Straße?
Ich sah ihr zu
Ihre Bahnen ziehend
Tauben füttern
Brot beißen, Saft schlürfen
Im Kreis hin und her schaukelnd
Geparkten Fahrrädern die Lenker nach Vorne richten
Sie sieht ernst aus und ist beschäftigt
Einst war sie im Kindergarten
Saß zu Frühstück
Am Elterntisch
War froh, ahnungslos froh
Machte sich keine Sorgen
Über die Zukunft
Lange her
Jetzt brennt sie eine Zigarette nieder
Eingemummt am Straßenrand
Redet mit Tauben –
Wie landet frau
Wie strandet man
Auf der Straße?
Denkt irgendwo
Irgendwer
Noch ab und zu an sie?
Und weiß nicht, wo sie – oder ihr Geist – ist?
Alles, woran wir glauben
Alles, an dem wir uns festhalten
Unsre Weltsicht, unsre Orientierung
Alles versandet in den Strand der Geschehen
Die wellengleich uns alle einholen –
Alles fällt ab, wir wandeln weiter…
Als ureigene Empfindungen begannen wir
Als ureigene Empfindungen enden wir.
– Che Chidi Chukwumerije.
RETIREMENT
His pride is on sale
And his shame
And on his broad frame
You can see him bearing his fate
With a brave face on display
Seventy years of age
All his fears have come of age
His hopes, dreams, plans, crumbled
But now he’s picked himself up again
And sits at the south train station
Easel, paint-brushes, stool, low table
But he holds his head up high
Give him a smile and a coin
And he’ll paint a portrait of you
That will stand the test of time
He: You speak good german
I: Can I write something about you?
He: Yes, but no names please. I
Have a granddaughter in Darmstadt, who
Doesn’t know what I do to survive.
– Che Chidi Chukwumerije.
