Ich spüre Deinen Schmerz, Sohn; Ein Teil von mir will ihn Dir wegnehmen. Die schluchzende Brust Deiner Emotion ist normal, dafür musst Du Dich nicht schämen. Ein Teil von mir will ihn Dir aber lassen, denn jeder muss einmal durch den Schmerz zum Reifen gebracht werden. Fassen kann‘s nur später, viel später, Dein Herz. Che Chidi Chukwumerije Im Jahrzehnt der deutschen Dichtung
Sohn
MUTTER LOS
Du warst so weit weg Die Milchstraße selbst war näher Du warst so weit weg So weit der Weg, so weit das Meer, Kein Strand, kein Landungssteg Keine Hand, kein Trost mehr Wir schwammen schwammen schwammen Durch Qualen Ängste Krisen Dramen Grübelten über ein unerklärliches Karma Beteten: Mama Mama Mama - Wo bist Du?… Wo ist sie? Amen. Wann sind wir alle wieder zusammen? Du warst so weit weg Dann kamst Du plötzlich wieder näher Wir waren schon so lange unterwegs Ich erkannte Dich nicht mehr. Ankunft. So fremd dieser Landungssteg - Ich bleibe innerlich leer. Che Chidi Chukwumerije Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
BETREUEN UND BEFREIEN
Papa, über was schreibst Du heute ein Gedicht? Ich weiß nicht. Über was soll ich heute schreiben? Über mich. Über Dich? OK. Nein! Spaß! Bitte nicht! Zu spät. Der Gedanke ist gekommen und muss nun bleiben. Und muss nun wachsen, betreut von meiner Liebe, und mich verändern, während ich ihn auch verändere; dann, vollendet, mich zu verlassen, um im Weltgetriebe eigenständig zu wirken für eine neue Welt, eine bessere. Che Chidi Chukwumerije Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
DER WEITER WEG
Mein Sohn lief mit mir durch die Nacht Und ich sah keine Nacht Ich sah ein Licht, das die Zukunft erhellte Und ich ging mit Zuversicht durch die Nacht. Che Chidi Chukwumerije Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
NICHT MEHR LANGE
Wie schnell Ihr wachst Eure Augen sprechen Volumen Eure Worte navigieren kluge Gedanken Auf den Weg zu mir Ich sehe es in Euren denkenden Augen - Wie lange noch, bis ich Euch nicht mehr Meine Kinder nenne Sondern meine Erwachsenen? Che Chidi Chukwumerije Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
KLEINE TRENNUNGEN
„Vater, Du brauchst zu lang - Kann ich wieder alleine hin?“ Ich spüre seinen Freiheitsdrang. Er muss zum Hort Ich zur S-Bahn und zur Arbeit Für jeden Menschen ein anderer Ort „Wir müssen in die selbe Richtung. Lasst uns doch zusammen bis zur zweiten Kreuzung.“ Wir laufen los Er marschiert zielstrebig nach vorne, beachtet mich nicht groß. Für diese Strecke auf jeden Fall braucht er mich nicht mehr, auf einmal. So reisen wir ein Stück miteinander, Vater und Sohn, dann gehen unsere Wege auseinander. Ich bleibe stehen, sehe ihn selbstbewusst weiter laufen und dann um die Ecke gehen. Kleine Wendungen können genau so tief bewegen wie große Trennungen. - Che Chidi Chukwumerije Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
VORFREUDE AUF WEIHNACHTSFREUDE
Der schönste Moment des Tages
Stufe für Stufe stiegen wir die Treppe hoch
äußerlich auf die Bühne
innerlich in die Freude
und holten die Weihnachtsdeko runter
denn Sehnsucht war das Treppenhaus
Mein Sohn und ich
Vergangenheit und Zukunft
Erinnerung und Hoffnung und kommende Nostalgie.
– Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
WACHSENDE FREUNDSCHAFT
Freundschaft
Ein Sohn, der zu seinem Vater hoch schaut
und in ihm einen Freund sucht –
Wenn ihm die Zeit eines Tages den Vater klaut
Hinterlässt sie zwischen ihnen die Frucht der Sehnsucht:
Die Männerfreundschaft.
– Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
IM SPIEGEL SUCHEN
Ein Junge lief nach langer Wanderung Heim
um seinem Vater zu erklären,
warum er fort gegangen war –
Doch der Vater war mittlerweile schon gestorben,
ohne erfahren zu haben…
Daß sein Sohn gegangen war
auf der Suche nach ihm, dem Vater,
und irrte so lange herum, bis er
die Stimme des Vaters in seinem Herzen vernahm –
denn er war nun ein Mann geworden.
Er schritt nun durch die Tür hinein
Das Haus war leer
An der Wand stand ein Spiegel
Er schaute lang in das Glas hinein
und die Augen seines Vaters, sie schauten zurück.
– Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
DAS WESENTLICHE
Papa, Du bist
fast nie Zuhause –
sagte mir heute Morgen mein Sohn.
Aber ich hörte:
Papa, Du bist nie da.
Und ich dachte an die Demos,
dachte an die Arbeit und an die Treffen,
an die Zukunft, die ich ihm bereiten wollte…
Und ich fragte mich:
War es das alles Wert?
– Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
