Es gibt ein anderes Leben, anders als dieses Erdenleben. Manchmal nach dem Lebensende manch unserer guten Freunde, spüren wir, wie deren Geist in eine andere Welt hinein reist; und wir spüren mit, zart und schroff, das Leben in diesem feineren Stoff. Heller, leichter, lebendiger, schneller, unmittelbarer, lebhafter - werdend zunehmend immer beweglicher. Es gibt uns die Gewissheit der Richtigkeit des Empfindungslebens auch zur Erdenzeit; Aufmunterung, nach dem Licht zu streben, Freude versprechend, Zuversicht gebend, wie ein Fenster in ein anderes Leben. Che Chidi Chukwumerije Im Jahrzehnt der deutschen Dichtung
sterben
DER NATÜRLICHE WEG
Eine ist tot, ihre Seele ich weiß nicht wo, ein anderer - der war so freundlich - ebenso, eine andere liegt heute tapfer im Krankenhaus, einer ist jetzt zu schwach, sitzt nur noch Zuhaus, eine weiß nicht mehr, wer ich war und bin, ich umarme sie trotzdem alle in mir innen drin, denn auch ich werde, wenn ich Glück hab, eines Tages alt werden, dann folgt das Grab. Che Chidi Chukwumerije Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
SOLLEN WIR WARTEN BIS ZUR TRAUERFEIER?
Sollen wir warten bis zur Trauerfeier, um erst dann zu werden (un)endlich freier? Sollen wir‘s hinausschieben bis zur Beisetzung, um anzuerkennen innere Verletzung? Sollen wir zögern bis zum letzten Abschied, um zu teilen unserer Herzen Lied? Wir harren im Kriegen im Sehnen nach Frieden, schaffen uns Schmerz und wollen Glück schmieden. Versöhnungsversuche heute wieder nicht gestartet. Wie lange wollen wir noch warten auf ein Ende, daß auf uns nicht wartet, in einer Form, die wir nicht erwarten? Che Chidi Chukwumerije Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
MICH BEHAUPTEN
Als ich nach Deutschland kam,
starb ich –
Wie eine umgepflanzte Blume,
verdarb ich –
Um Verbindung als Gleichart vergeblich
warb ich –
Als Gespenst mitten in der Menge
stand ich –
Unsichtbar als Ich, und als Mensch
verschwand ich –
Trost bei weder Weiß noch Schwarz
fand ich –
Bis keine Farben mehr, keine Labels
sah ich –
Erst dann wie ein Ereignis mir selbst
geschah ich –
Nach dem langen Weg, wo ich verlor
beinah Ich
War ich es doch, der mich erfüllen musste –
Ja, ich.
– Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
GESELLSCHAFTSSTERBEN
Blumenreiche Flur
Sterbende Blumen
Menschenähnliche Natur
Reich an Volumen
Traurige Lächeln nur
Innerlich leeres Lumen.
– Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

DA MUSST DU DURCH
Nichts schwächt
oder stärkt Dich schneller
als eine falsche Entscheidung
Dich tötet danach
sowohl das verbitterte Aufgeben
wie die befreiende Aufarbeitung.
– Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
DU WIRST DEINE ERMORDUNG VERGESSEN
Das Ding mit Sterben ist,
daß Du es vergisst –
Irgendwann als Erwachsener
blickst Du suchend zurück
vergeblich nach dem trennenden Moment
zwischen Dir und Deinem Glück.
Dieses Rätsel wird Dich begleiten
den Rest Deines Lebens:
Wie könnte ich so leise sterben
ohne Anzeichen eines Erdbebens?
Wer oder was hat mich wann getötet?
Du suchst die Antwort … vergebens.
Das Kind starb mit seinen Erinnerungen
Der Jugendliche starb mit seinen Idealen
Der Erwachsene bleibt mit seinen Fragen.
– Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
DEN HERBST VERSTEHEN
Manchmal musst Du gelebt haben
Und gestorben sein
Um den Herbst zu verstehen
Um genüßlich Dich an trocknem Wein
Nachdenklich zu laben
Am Abend Deines neuen Seins
Weder dem Sommer nachsinnen
Noch den Winter vorspinnen
Nur Herbst in Dir singen lassen
Und wenn Du äußerlich unbeweglich scheinst
Denn nur weil Du der erwachsen gewordene
Stabile ruhige Krug
Der alles ertrug, geworden bist
In dem heute die tobende Brandung
Ihre Verankerung sucht.
– Che Chidi Chukwumerije
2019: Das Jahr der deutschen Dichtung
40 ALS GRENZE
Wann wirst Du endlich erwachsen?
Mit 14? 16? 18? 21?
Ab 30 ist die Frist fast abgelaufen
Denn das Leben endet mit 40
Willst Du jenseits 40 überleben
Musst Du tapfer neugeboren werden
Sonst ist der Rest Deines Lebens,
Ob lang oder kurz, nur ein Sterben.
– Che Chidi Chukwumerije
2019: Das Jahr der deutschen Dichtung
LANGSAM GEHT SCHNELL
Das, womit der Mensch stets
Am Wenigsten rechnet, das,
Was ihm aber stets widerfährt:
Daß seine Zeit einst um ist
Schneller als erwartet, und er
Keine Zeit mehr hat, das Wesentliche
Noch zu erfüllen, bis er scheidet.
Alles bleibt unvollendet
Gedanken, Sätze, Kapitel
Abgeschnitten, lose hängend
Kaum einer stirbt ohne
Sich nachdenklich zu fragen –
Und? Was war der Sinn des Ganzen? –
Ein kurzer Gedanke, dann Gute Nacht.
– Che Chidi Chukwumerije
2019: Das Jahr der deutschen Dichtung
