Wir werden älter ohne älter zu werden als wäre unser Körper süchtiger auf Sterben als wir selbst. Plötzlich ist mein Körper nicht mehr meiner sondern ein kalter Fremder. Sein Weg ist seiner - und er verwelkt. Laß uns deshalb schnell die Zeit nutzen - uns finden, kennenlernen, lieben, unterstützen bevor er wegfällt. - Che Chidi Chukwumerije Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
Tod
ÜBERDREHT
Immer noch auf
Kriegsfuß. Barfüßig begegnet.
Unvorbereitet.
Kriegsgruss. Barbusig geschändet.
Ungeschützt.
Kriegskuss. Doppelzüngig gestoßen.
Ausgebreitet.
Ein Todeskuss soll es sein. Ununterstützt.
Abschüssig der Ablauf.
Aufs Kriegsfuß immer noch.
Mein Kind kommt heute von der Schule heim.
Überdreht. Papa, wir werden alle sterben.
Welche Psyche wird ihre Generation erben?
Bisherige Zukunft erstickt im Keim.
– Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
EIN LEBEN KURZ EIN LEBEN LANG
Manch ein Mensch
lebt bis ins hohe Alter
nur um zu erfahren, daß
er bereits als Kind starb
und sein ganzes Leben lang
tot war.
Manch ein Mensch lebt lang genug
um zu begreifen, daß sein Leben kurz war.
Doch manch einer überlebt seine Kindheit,
gestärkt durch Liebe oder gewonnenen Kampf
und selbst wenn er jung stirbt,
hat er länger gelebt als alle anderen –
und länger noch wird er leben…
ein Licht für alle Ewigkeit.
– Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
AUSDRUCK
Als ich tot war
und nichts spürte, außer Schmerz,
dachte ich, ich wusste, was Schmerz ist
Als ich, noch tot, anfing
mich nach dem Leben neu zu sehnen
lernte ich, daß der Schmerz des Todes nichts
im Vergleich zum Schmerz der Sehnsucht ist
Dann erwachte ich wieder zum Leben
und verstand, daß weder der Tod
noch die Sehnsucht mehr schmerzt,
als das Leben selbst. Es schmerzt so sehr,
es bringt Deine Freude zum Aus-Druck.
– Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
SCHMERZ ALS SCHMERZMITTEL
Ich vermisse Dich
so sehr, daß
die Sehnsucht mir genügt
Sie ernährt mich Tag und Nacht
so daß die Wunde Deiner Abwesenheit
längst geheilt wurde durch meine
immer anwesende Sehnsucht nach Dir.
Stell Dir vor,
ein Tag ginge vorbei, in dem
ich an Dich kein einziges Mal dachte…
Das wäre wahrlich der traurigste Tag meines Lebens
schlimmer noch als Deine Abwesenheit
schlimmer noch als mein Schmerz
schlimmer noch als Dein Tod.
– Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
WEITER(ER)ZÄHLEN
WEITER(ER)ZÄHLEN
Die Sonnen sinken
eine nach der anderen
wie Abakusperlen
Deine Tage runterzählend
Irgendwann fällt die letzte
Da liegen sie nun alle
Am Boden Deines Spielbretts.
Ob jemand Deine Sanduhr
wieder umdrehen wird?
Oder war es das?
– Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
SONNENSTRAHL
Was machst Du gerade?
Ich greife nach Dir wie nach Sonnenstrahlen,
mit eben gleichem Erfolg –
denn genau wie sie bist Du da,
ich kann Dich spüren
aber nicht berühren und nicht mehr fassen –
Mein Verstand kann nach all den Jahren
es immer noch nicht erfassen –
Lieben und lassen,
lieben lassen ist gehen lassen.
– Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
DA, WO DAS LACHEN BEGINNT UND STIRBT
Ich habe schon viele Menschen getötet.
Nicht körperlich.
Da, wo es weh tut, wo es wütet,
Wo die Wunde still ist und unerreichbar,
Do, wo der Schmerz unüberwindbar ist
oder zu sein scheint.
Seelisch.
Ich habe schon viele Menschen wiederbelebt.
Nicht physisch.
Da, wo das Leben beginnt, innerlich,
Beginnt als Selbstvertrauen, als Lust,
als Sehnsucht, Freude, Hoffnung, als Drang.
Geistig.
Mögen meine guten Taten meine bösen ausgleichen.
Ich wurde schon von vielen Menschen getötet
Ich wurde schon von vielen Menschen wiederbelebt
Nicht irdisch
Da, wo Menschen sich treffen,
wenn Menschen sich treffen,
im tiefsten Inneren.
Und äußerlich hat keiner was gemerkt.
Außer am Lachen und an seinem Fehlen.
– Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
TAG DES ABSCHIEDS
Es gibt diesen einen Tag
Es ist nicht der Todestag
Es ist nicht der Gedenktag
Es gibt diesen einen Tag
Er kommt unangekündigt
Plötzlich, wie aus dem nichts
Unterscheidet sich mit nichts
von allen anderen Tagen davor
Außer in einem: Es ist der Tag,
an dem Du einen Menschen los läßt,
der viele Jahre davor gestorben ist;
einen Dir wichtigen Menschen.
Die Sonne steigt, der Regen fällt,
Er taucht plötzlich auf in Deiner Innenwelt
Und während Du ihn anschaust, spürst Du,
wie der letzte Stein von Deinem Herzen fällt.
– Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
ABENDS
Ich brauche es
abends
in die Leere meiner Seele
lange zu blicken
und dann
nach einer Ewigkeit des Wartens
zu sehen, wie mein Geist von tief drinnen
Bilder an mich zurück schickt
Alles, woran
ich heute flüchtig dachte
ohne zu merken, daß ich daran dachte
es kommt alles zurück
Flüchtlingskinder, die
vergeblich auf ihre Eltern warten…
Ob meine Kinder – und womit –
geimpft werden
Ab wann Ausländer – egal wo –
Wahlrecht haben dürfen…
Und wo ist mein Bruder heute, der
vor sechsundzwanzig Jahren starb?
Dann ist der Abend vorbei
und ich steige aus meiner Seele
wieder heraus
und das war mein Tag heute.
– Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung