BUND DER LIEBE

Es liegt viel tiefer
als mancher denkt,
der Haß. Doch tiefer noch
liegt die Liebe, sie senkt
ihr Wesen bis in den Grund
der Volkesräson und
vervollkommnet unseren Bund.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der deutschen Dichtung

GEWISSEN OHNE HAFT

Das Politische ist der Brückenkopf,
löst aber selbst das Problem nicht -
Liefert nur das, womit die Volksseele
ihn erfüllt, ist also nur sein Angesicht.

Ist es hässlich, ist es wahr.
Ist es menschlich, ist es wahr.
Ist es zwiegespalten, ist es wahr.

Die Politik hat die Macht.
Die Gesellschaft hat die Triebkraft -
und sie ist aufgewacht,
hin und hergerissen, Gewissen ohne Haft.

Ist es hässlich, ist es wahr.
Ist es menschlich, ist es wahr.
Ist es zwiegespalten, ist es wahr.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

SELBSTÄNDIG DENKEN

Und dann, als wären sie selbständige Wesen,
Erheben sich meine Flügel und laufen durch die Luft,
Umschreiben praktisch hochtönende politischen Thesen,
Die zwischen Volk und Gesellschaft liegen wie eine Kluft.
Ich laufe mit und fühle mich an Klarheit genesen -
Klarheit und Mut - und wer nach meiner Art ruft,
Kann sie im Himmel wie Gedichte im Flug lesen.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

AUS DEM INNEREN

Ein Geist herrscht über das Land
Suche ihn nicht in Gesetzesparagraphen
Suche ihn in den Augen der anderen.

Und wer ihn dort erkennend fand,
Der mache seinen Spiegel zum Fotografen -
Erblicken wird er ihn auch im eignen Inneren.

Erst dann strecke aus Deine Hand
Öffne die Gesetzbücher, wie Seismografen
Markieren sie erschütternd genau Eure Miseren.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

STRANDGUT

Wusstest Du, daß täglich
ein Strand Dir Gesellschaft leistet?
Denn, und ich spreche nicht von Deiner Seele,
eine Gesellschaft ist ein Strand.
Ne, ich spreche doch von einer Seele.
Kultur, Gedächtnis, Geschichte, Art, Sehnsucht
sind der Gesellschaft ihre Seele,
wie das Meer dem Strande,
das kommt und geht,
wegnimmt und hinterlässt.

Und so laufen wir täglich am Strand
durch die Stadt, durch das Dorf,
hinterlassen Fußabdrücke und Flaschenpost,
Trophäen und Träume, die
von der Volksseele geschluckt werden -
Und alles Strandgut, das uns täglich begegnet,
das Hässliche, das Schöne, das Neue, das Alte,
kommt aus der Tiefe der Volksseele,
zeigt sich kurz - und wird wieder geschluckt.
Wird wieder verborgen, gehütet und versteckt. 

- Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
Spaziergang bei Ebbe am Wattenmeer, Nordsee. Okt 2020.

Nach dem ich mein heutiges Gedicht schrieb, kramte ich dieses „alte“ Foto von vor 2 Jahren aus. Der Nordsee und vor allem das Wattenmeer haben zu meiner Seele gesprochen.

TREFFPUNKT DER NATION

Irgendwo müssen wir uns doch treffen

Wenn nicht in der Musik, dann
in der Sprache
Wenn nicht in der Wirtschaft, dann
im Sport
Wenn nicht in der Kultur, dann
in der Geselligkeit
Wenn nicht in der Geschichte, dann
in unserer Hoffnung
Wenn nicht in Schmerz und Freude, dann
in Neugier und Sympathie
und Solidarität
Wenn nicht in der Vergangenheit,
oder in der Gegenwart, dann
in der Zukunft

Irgendwo müssen wir uns doch treffen
als Nation.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

ÄHNLICH UNÄHNLICH

Wenn die nationalen Grenzen verschwinden,
was passiert den persönlichen?
Wenn die nationalen Grenzen sich verhärten,
werden wir uns dennoch verbinden.

Es ist leicht, Menschen zu finden
Es ist schwer, Menschen zu erreichen
Menschen und Länder und Völker
Abstrakt und abstrakter und noch abstrakter

Am Abstraktesten ist die Gleichart –
Auf welcher Ebene wird sie erfasst?
Egal wer Du bist, in irgendeinem Bereich habe
ich etwas, was voll und ganz zu Dir passt.

Aber das Gedicht ist noch nicht zu Ende
Denn egal wie gleichartig wir sind –
Rasse, Kultur, Geschlecht, Neigung –
irgendwo tief in uns sind wir einander fremd.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

RÜCKKEHR INS DUNKEL

Und so kehrt der Totalitarismus zurück
als heldenhafter Ritter in glänzender Rüstung –
und die dankbaren Völker auf ihrer Brüstung
aus äußerer Angst und innerer Verwüstung
schenken ihm jubelnd ihre Freiheit zur Begrüßung
und fassen nicht ihr Glück.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der deutschen Dichtung

ANGESTECKT

Ein rotes Tier
Spielt neuerdings im Wald
Es färbt ab

Wie ein Gedanke
Der von Kopf zu Kopf
Sich fortpflanzt
Bis ein ganzes Volk
Einst im Frühling seines Schmerzes
Jetzt den Sommer verdirbt
Zum roten Herbst wird

Ein gelbes Tier
Wartet welk am Rand
Farbe in Hand. Bald dran.
Danach folgt das Graue.
Gefolgt, gedeckt vom stillen weißen Tod.

Che Chidi Chukwumerije
2019: Das Jahr der deutschen Dichtung

ALLE MANN

Wir sind das Volk!
Na, und? Und wer
Ist die Regierung?

Durchs Volk
Des Volkes
Fürs Volk

Nicht „Wir sind das Volk“
Sondern „Wir sind die Regierung“
Wir sind mehr als Volk
Wir sind Heil und Zerstörung.
Und haben die Wahl.
Und müssen lediglich zur Wahl.

Che Chidi Chukwumerije.
2019: Das Jahr der deutschen Dichtung