ABFLIEGEN ABWIEGEN

Wie weit soll ich fliegen
um allem zu entkommen?
Wie weit soll ich fliegen
um endlich anzukommen?
Oder soll ich nicht wegfliegen?
Soll ich bleiben und leiden?
Beflügelte Herzen wiegen
schwer, was sie entscheiden.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der deutschen Dichtung

DAS UNAUFHÖRLICHE WERDEN

Irgendetwas befindet sich immer im Werden
Was gestern war, war bereits am Verschwinden
Was morgen sein wird
Läßt sich, versteckt, bereits im Heute empfinden.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

NICHT GANZ

Ich sterbe Tag für Tag
Und sterbe nicht
Ich lebe Tag für Tag
Und lebe nicht
Ich werde Tag für Tag
Und werde nicht
Ich erwache und erwache
Und erwache nicht ganz
Eure nächste Nähe
Fühlt sich an wie Distanz
Ich erwache und erwache
Und erwache nicht ganz.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

ERFÜLLUNG DAUERT

Wir waren eins
lange bevor wir uns trafen
Und waren einst
lange bevor wir uns kannten
sich gegenseitig ergänzende Teile

Wir blieben zwei
lange nachdem wir uns trafen
Denn Einswerdung
ist jenseits des Anfangs sehr schmerzvoll
und dauert eine Weile.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

WERDERAUM

Ich grabe
Da wo ich habe
Und finde nichts

Und da wo ich nichts bin
Da wo ich nichts habe
Da fand ich den Sinn
Meines Lebensgedichts

Ein Suchender sucht sich selbst
Ich brauche keinen vollen Raum
Mit allen möglichen Antworten
Ich will einen leeren Raum
In dem ich wachsen kann als ich selbst.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

DU-ETT

Wärest Du ein Lied,
wer hätte Dich gesungen?
Wer hätte Dich komponiert?
Wer hätte Dir Deine Melodie abgerungen,
die im Kind als Freude gejubelt,
in der Jugend von Sehnsucht bezwungen,
im Erwachsenen im Kampf gewütet,
im Greisen als Nachdenken ausgeklungen?

Duett.
Du und das Gesetz
der Wechselwirkung.
Euch ist zusammen Dein Lied gelungen.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

DER INNERE NAVIGATOR

In der Landschaft meiner Gedanken
fliege ich, ein Flugzeug,
und ich fliege durch sie hindurch

Denn ich muß tausend Gedanken ignorieren
um den einen zu finden,
der mich unaufhörlich ruft

Ich sehe Euch alle
und ich liebe Euch alle
dennoch muss ich Euch alle verlassen.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

WEITERMACHEN

Der Specht
hat Recht
hat Recht
hat Recht

Und wiederholt sich so lang
bis er seinen Punkt gemacht hat.

Nicht schlecht
nicht schlecht
nicht schlecht

Wie lange noch? Wann kommt endlich
meine tiefste ureigenste Empfindung zur Tat?

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

DEIN ZUKÜNFTIGES SELBST RUFT DICH

Neue Wege
und dennoch
gehe ich immer noch
und nur zu Dir.

Du warst schon immer in mir
meine erste Sehnsucht
meine erste Frage
und meine erste Sprache

Du warst alles,
was ich sah, als ich
das erste Mal
die Welt sah:

Die Gewissheit, daß
der Mensch blühen soll
war mir sofort und immer
eine Selbstverständlichkeit

Ich blickte in die Zukunft
und sah mich, aufgeblüht,
mir zu lächelnd,
mich zu mir rufend.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

DEN HERBST VERSTEHEN

Manchmal musst Du gelebt haben
Und gestorben sein
Um den Herbst zu verstehen
Um genüßlich Dich an trocknem Wein
Nachdenklich zu laben
Am Abend Deines neuen Seins
Weder dem Sommer nachsinnen
Noch den Winter vorspinnen
Nur Herbst in Dir singen lassen
Und wenn Du äußerlich unbeweglich scheinst
Denn nur weil Du der erwachsen gewordene
Stabile ruhige Krug
Der alles ertrug, geworden bist
In dem heute die tobende Brandung
Ihre Verankerung sucht.

Che Chidi Chukwumerije
2019: Das Jahr der deutschen Dichtung