NEUGEBURT

Das Jahr neigt sich meinem Ende
Ich habe so viele Häute ausgezogen
Ich sollte schon längst nackt sein
Doch ich bin noch dick angezogen

Die Unendlichkeit des Seins
Die Blätter fallen wie ein Buch
Schicht unter Schicht unter Schicht
Fallen weg wie Geschichte.

– Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

FREUNDSCHAFT MACHT BLIND

Mit weniger List
wurden Kontinente schon erobert
So viel Verrat, so feine Täuschung
kann es nur zwischen Freunden geben
Denn Feinde durchschauen einander sofort.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

FESTHALTEN

Ein Ozean liegt zwischen uns
Als wäre es ein Gespräch ohne Worte
In fremden Gedanken positioniert
In einer Ecke meines Verstandes, die ich
Nicht orten kann –
Und der Ozean liegt einfach da,
Eine schwere tote Masse, ein Brei,
Ein ertrunkener unerhörter unausgesprochener Schrei!
Das Blut in meinen Adern füllt sich an wie Blei
Denn ich hadere mit Deinem Schicksal
Und kämpfe, um den Glaube an Dich nicht
Zu vergessen, Afrika.

– Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

EIN GEWÖHNLICHES LEBEN

Ich floh
in die Tat
in den Tag
in das Nichtstun
in die Nacht
in die Trauer
in die Träumerei
in die Sünde
in die Sühne
in den Streit
in die Sehnsucht
in das Lachen
in die Lust
und in das Leiden –
denn überall suchte ich Dich, meine Liebe.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

EWIGES GEDÄCHTNIS

Und das Herz ist ein bodenloses Faß
Das sich erinnert an alles, was der Kopf vergaß
Und sein Gedächtnis trägt in seinem Ausmaß
Die Grenzen von Schmerz und Freude, von Liebe und Haß
In der täglichen Grenzenlosigkeit
Von Zeit gegenwärtig in aller Ewigkeit.
Mein kleines Herz – und eng, und tief, und weit.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

UNSERE WAHREN GESICHTER

Die Masken machen eh keinen Unterschied
Wir hatten sie immer an.
Und selbst nach dem das Virus gebändigt ist
Bleiben die Masken – wie immer – an.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

IN MITTEN DER GESELLSCHAFT

Ich greife nach der Gesellschaft
Wie ein Kind nach seiner Mutter greift
Wir ein Ertrinkender, den ein Halm streift
Wie ein Träumer nach einem Gedanken,
den er fast begreift –
Und er schleift und schleift an seinem Begreifenkönnen,
bis er nach und nach heranreift
und wird selbst zur Antwort seiner eigenen Frage
und einem neuen Teil seiner Gesellschaft.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

DU BIST MEIN TAG

Als ich Dich verlassen wollte
Blieb der Tag stehen
Und er hinderte mich am Weitergehen
Denn er verweigerte mir, was ich wollte
Ich wollte die Nacht.

Ich war müde und konnte mich nicht ausruhen
Denn ich fand keine Nacht
Ich war einsam, konnte mich aber nicht binden
Denn ich war innerlich noch nicht getrennt
Und fand keine Nacht.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

ANPRALL

Freunde tauchen aus dem Nichts aus,
Verwirrt, und überrascht von der Freundschaft,
Wie Rehe im Scheinwerferlicht zu Hause
In der faszinierenden Gefangenschaft.

Du möchtest fliehen vor dem Licht,
Hast aber keine Lust mehr auf die Dunkelheit:
Der feuchte Wald und Du ganz allein
Mit nur Deine Fantasie um Dich zu wärmen.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

ZUSAMMEN ALT WERDEN

Der Abend ist das Versprechen des Morgens
Die Nacht sein Geschenk
Das Alter ist ein Geschenk
Nicht jeder lebt lang genug, um es zu bekommen

Was ist schöner als Deine Falten?
Der Tag mußte lang reisen, um die Nacht zu küssen
Ich werde alle Deine Falten zart küssen
In der Reihenfolge, in der sie erscheinen.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung