KAPAZITÄT ZUR EINSAMKEIT

Er sitzt, überwiegend allein,
in seinem Internetcafé.
Er grüßt, lächelt, kommt rein!,
nippt an seinem Kaffee.
Er grüßt, lächelnd, Auf Wiedersehen!,
und ist wieder allein.
Die Stunden, die täglich vorbeigehen,
markieren in Einsamkeit sein Sein.

Selbst ist der Gesprächspartner
Sich selbst der einzige Berater
Sein Internetcafé sein Lebenstheater.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

DIE FÜNFTE KERZE

Die erste Kerze war die Ankündigung -
Öffne und bereite langsam Deine Empfindung.

Die zweite Kerze war die Erinnerung -
Es war einmal, uralt, wie die Morgendämmerung.

Die dritte Kerze war die Vorbereitung -
Licht oder Dunkel, es ist Deine Entscheidung.

Die vierte Kerze war die Krönung -
Das Kreuz, die Kreisschliessung, die innigste Ahnung.

Die fünfte Kerze ist Dein innerer Advent -
Die geistige Flamme, die in Deiner Seele brennt.

Fünf Kerzen zu Weihnachten
Wahre Liebe bei den Andachten.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

WO SIND UNSERE FLAMMEN?

Die Kälte, wie eine blasse Wand,
schiebt sich durch die Gassen,
bringt uns zusammen und trennt uns
gleichzeitig, entsprechend unserer Klassen.

Du wusstest nicht,
dass Du zu einer Klasse gehörst,
bis angewidert jemand Dich hochnäsig meidet.
Du wusstest nicht
dass Du einer Klasse angehörst
bis Du jemand siehst, der schlimmer leidet.

Dann klingelt es leise im weihnachtlichen Nebel.
Angeblich ist es die Zeit, Licht zu teilen.
Meine Flamme Dir, Deine Flamme mir -
zusammen können wir uns gegenseitig heilen.

Angeblich. Doch die Kälte, Mantel der Angst,
legt sich auf jeden von uns nieder,
uns von einander trennend.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

BAHNHOFSVIERTEL 1

Eine Wechselstube am Hauptbahnhof
Der bedrückend foulste Gestank trat ein
Alle Kunden drehten sich erschrocken um
Starrten irritiert murmelnd die Quelle an

Eine Weiße drückte die Hand vor die Nase
Eine Asiatin drückte die Hand vor die Nase
Ein Araber drückte die Hand vor die Nase
Ein Schwarzer drückte die Hand vor die Nase

Der Verursacher des üblen Gestanks
Holte etwas vom Schalter, ging wieder
Er war weder weiß noch asiatisch
Noch arabisch noch Schwarz

Er war obdachlos.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

EINFACH WEITER SCHREIBEN

Das Gedicht endete so schnell,
So plötzlich, brauchte keinen Reim,
Ein Leben, intensiv und hell,
Bald ist der Geist wieder Daheim.

Meine allergrößte Schwäche
Ist die lebenslange Unfähigkeit,
Zuzugeben meine größte Schwäche:
Die unheilbare Einsamkeit.

Kein Fremdland kann einsetzen,
Was in der Heimat fehlt -
Kein Fremdgang kann ersetzen,
Was Dir die Ehe stehlt.

Und währenddessen endet
Das Gedicht insgeheim.
Dein Schmerz hat Dir geblendet -
Es hatte doch seinen Reim.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

TIEFE GEHT VERLOREN

Grüne Felder und uralte Bäume sind
Nicht mehr schön genug -
KI kann das alles besser abbilden.
Wer braucht denn noch die echte Natur?

Floskeln reichen. Sprüche und Clichés.
Mit Bildbearbeitungsprogrammen
Ist jeder Mann, jede Frau, wunderschön.
Wer braucht denn noch die wahre Schönheit?

Eitelkeit lohnt sich.
Wird mit Millionen leeren Komplimenten belohnt.
Immerhin Millionen. Besser sein als andere
Macht uns alle schlimmer als alles andere.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

ANGEFASST IST NICHT BERÜHRT

Dieser Moment danach -
Alles Anfassbare angefasst
Gegenseitig
Und sich immer noch nicht berührt
Oder gerührt
Innenseitig -
Gegenwärtig bleibt die seltsame Distanz
Alles Fassbare noch nicht erfasst - -
Nur Leere, All-Einsamkeit
Unterschwellig.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

KRONE

Sie spielt ihn, ihren Saxofon,
Und sie spielt ihn gut.
Sie gibt an, gekonnt, den Ton.
Er wird in seinem Mut
Meinungslaut wie ein Megafon,
Kündigt an, angeregt, ihre Sintflut,
Macht sich zu ihrem Thron:
Setz Dich!, was sie auch tut,
Seine Krone, sein zweiter Hut.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

NEUGIERDE

Deine Neugier ist Brot
Ich beiße rein
Ich lecke Dein Blut
Und schmecke Wein
Du schmeckst so gut
Weiter oben am Bein
Stell Dich nicht tot
Du darfst noch nicht müde sein
Ich komme wieder rein.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

EINE STIMME

Der Wind stieg aus dem Meer empor
lief durch den Wald
erzählte dort wilde Geschichten
über das Meer -
Und ich sagte zum Wasser,
Sei nie wieder stimmlos.

Der Wind stürzte aus dem Wald heraus
lief brausend durch die Stadt
erzählte dort schräge Geschichten
über den Wald -
Und ich sagte zu Bäumen,
Seid nie wieder stimmlos.

Und ich schaute in den Spiegel
und sah den Schmerz in meinem Gesicht
und ich sagte zu mir
sei nie wieder stimmlos!

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung