Er sitzt, überwiegend allein, in seinem Internetcafé. Er grüßt, lächelt, kommt rein!, nippt an seinem Kaffee. Er grüßt, lächelnd, Auf Wiedersehen!, und ist wieder allein. Die Stunden, die täglich vorbeigehen, markieren in Einsamkeit sein Sein. Selbst ist der Gesprächspartner Sich selbst der einzige Berater Sein Internetcafé sein Lebenstheater. Che Chidi Chukwumerije Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
2023
DIE FÜNFTE KERZE
Die erste Kerze war die Ankündigung - Öffne und bereite langsam Deine Empfindung. Die zweite Kerze war die Erinnerung - Es war einmal, uralt, wie die Morgendämmerung. Die dritte Kerze war die Vorbereitung - Licht oder Dunkel, es ist Deine Entscheidung. Die vierte Kerze war die Krönung - Das Kreuz, die Kreisschliessung, die innigste Ahnung. Die fünfte Kerze ist Dein innerer Advent - Die geistige Flamme, die in Deiner Seele brennt. Fünf Kerzen zu Weihnachten Wahre Liebe bei den Andachten. Che Chidi Chukwumerije Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
WO SIND UNSERE FLAMMEN?
Die Kälte, wie eine blasse Wand, schiebt sich durch die Gassen, bringt uns zusammen und trennt uns gleichzeitig, entsprechend unserer Klassen. Du wusstest nicht, dass Du zu einer Klasse gehörst, bis angewidert jemand Dich hochnäsig meidet. Du wusstest nicht dass Du einer Klasse angehörst bis Du jemand siehst, der schlimmer leidet. Dann klingelt es leise im weihnachtlichen Nebel. Angeblich ist es die Zeit, Licht zu teilen. Meine Flamme Dir, Deine Flamme mir - zusammen können wir uns gegenseitig heilen. Angeblich. Doch die Kälte, Mantel der Angst, legt sich auf jeden von uns nieder, uns von einander trennend. Che Chidi Chukwumerije Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
BAHNHOFSVIERTEL 1
Eine Wechselstube am Hauptbahnhof Der bedrückend foulste Gestank trat ein Alle Kunden drehten sich erschrocken um Starrten irritiert murmelnd die Quelle an Eine Weiße drückte die Hand vor die Nase Eine Asiatin drückte die Hand vor die Nase Ein Araber drückte die Hand vor die Nase Ein Schwarzer drückte die Hand vor die Nase Der Verursacher des üblen Gestanks Holte etwas vom Schalter, ging wieder Er war weder weiß noch asiatisch Noch arabisch noch Schwarz Er war obdachlos. Che Chidi Chukwumerije Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
EINFACH WEITER SCHREIBEN
Das Gedicht endete so schnell, So plötzlich, brauchte keinen Reim, Ein Leben, intensiv und hell, Bald ist der Geist wieder Daheim. Meine allergrößte Schwäche Ist die lebenslange Unfähigkeit, Zuzugeben meine größte Schwäche: Die unheilbare Einsamkeit. Kein Fremdland kann einsetzen, Was in der Heimat fehlt - Kein Fremdgang kann ersetzen, Was Dir die Ehe stehlt. Und währenddessen endet Das Gedicht insgeheim. Dein Schmerz hat Dir geblendet - Es hatte doch seinen Reim. Che Chidi Chukwumerije Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
TIEFE GEHT VERLOREN
Grüne Felder und uralte Bäume sind Nicht mehr schön genug - KI kann das alles besser abbilden. Wer braucht denn noch die echte Natur? Floskeln reichen. Sprüche und Clichés. Mit Bildbearbeitungsprogrammen Ist jeder Mann, jede Frau, wunderschön. Wer braucht denn noch die wahre Schönheit? Eitelkeit lohnt sich. Wird mit Millionen leeren Komplimenten belohnt. Immerhin Millionen. Besser sein als andere Macht uns alle schlimmer als alles andere. Che Chidi Chukwumerije Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
ANGEFASST IST NICHT BERÜHRT
Dieser Moment danach - Alles Anfassbare angefasst Gegenseitig Und sich immer noch nicht berührt Oder gerührt Innenseitig - Gegenwärtig bleibt die seltsame Distanz Alles Fassbare noch nicht erfasst - - Nur Leere, All-Einsamkeit Unterschwellig. Che Chidi Chukwumerije Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
KRONE
Sie spielt ihn, ihren Saxofon, Und sie spielt ihn gut. Sie gibt an, gekonnt, den Ton. Er wird in seinem Mut Meinungslaut wie ein Megafon, Kündigt an, angeregt, ihre Sintflut, Macht sich zu ihrem Thron: Setz Dich!, was sie auch tut, Seine Krone, sein zweiter Hut. Che Chidi Chukwumerije Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
NEUGIERDE
Deine Neugier ist Brot Ich beiße rein Ich lecke Dein Blut Und schmecke Wein Du schmeckst so gut Weiter oben am Bein Stell Dich nicht tot Du darfst noch nicht müde sein Ich komme wieder rein. Che Chidi Chukwumerije Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
EINE STIMME
Der Wind stieg aus dem Meer empor lief durch den Wald erzählte dort wilde Geschichten über das Meer - Und ich sagte zum Wasser, Sei nie wieder stimmlos. Der Wind stürzte aus dem Wald heraus lief brausend durch die Stadt erzählte dort schräge Geschichten über den Wald - Und ich sagte zu Bäumen, Seid nie wieder stimmlos. Und ich schaute in den Spiegel und sah den Schmerz in meinem Gesicht und ich sagte zu mir sei nie wieder stimmlos! Che Chidi Chukwumerije Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
