SCHLAFLEID

Ob heute Nacht
unter einer Brücke
ein Obdachloser Sehnsucht
nach einem altgeliebten Lied verspürt
und es nur in seinem Gedächtnis
wieder hören kann, denn er hat weder
Handy noch Musikspieler noch Internet,
und er wird nostalgisch, dann traurig,
dann unruhig, nimmt seine sieben Sachen
und sucht sich einen Bahnhof
unter der Erde und dort
auf einer Bank unter dem grellen Licht
hüllt sich in einem dunklen Schlafsack – und schläft – ein…

Ob er, bevor er einschläft,
in seinem Kokon wie eine Raupe,
sein altgeliebtes Lied zu sich singt
und an einen Schmetterling denkt?

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

PLATZ FÜR UNS

Er auf seinem E-Rollstuhl
Sie mit ihrem Rollator
Sie wollte einsteigen
Er wollte wenden und rausfahren
Kein Platz für beides, für beide.

Sie fangen an, zu streiten
Sie findet eine Ecke, er Platz
Der Fahrer legt die Rampe an
Er fährt aus der Straßenbahn raus
Sie setzt sich, in sich versunken

Neben mir sitzt ebenfalls eine Alte
Sie beobachtet alles wortlos, steigt
mühsam an der nächsten Haltestelle aus
Wir werden älter, die Welt jünger
Wir werden langsamer, die Welt schneller

Und wir werden ungeduldiger miteinander
Anstatt geduldiger. 

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

TAGE DER KÄLTE

Im Winter schreibt die Straße
ihre härtesten Gedichte
Wieder ein Obdachlose erfroren
mundtot in der Stadtgeschichte

Die Nachrichten schreien
darüber ein paar Tagesberichte
Die Politik zeigt sich bestürzt –
das, wozu sie sich verpflichte.

Die Bewohner und Benutzer
der Straße, ihre eigenen Gerichte,
wussten‘s schon immer, die Kälte
richtet ihn eines Tages zunichte.

Niemand rief den Kältebus
doch die waren keine Bösewichte
Die Kälte zieht uns die Wärme ab,
die ihr Ertragen ermöglichte.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

SCHWERE ZEITEN

Ich sah leere Büroräume
zum Vermieten freigegeben.
Ich fragte mich, welche Träume
dorthin einzuziehen streben.

Wird die Wirtschaft mitspielen?
Droht Rezession? Inflation?
Wird der Markt ihren Zielen
eine Chance geben zur Realisation?

Jahre der Schule und Ausbildung
liegen hinter den einen.
Hinter andren Jahre der Hoffnung,
Arbeitslosigkeit, Weinen.

Ich sah leere Büroräume
und hörte mein Herz ein Gebet aufbringen
für die guten dorthin bald einziehenden Träume:
Gutes Gelingen!

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung

ABGELENKT

Endlich haben wir die Möglichkeit
täglich, stündlich, sekündlich
unsere Gedanken mit allen zu teilen
– doch ich bin abgelenkt.

Seit Stunden scrolle ich hochundrunter
wie schnüffelnd ein Hund im Wald
auf der Suche nach – und weiß trotzdem
immer noch nicht – was Ihr denkt.

Mediensozialisierung
Sinnesüberflutung

Die Suche lenkt mich vom Suchen ab
Das Gefundene lenkt mich vom Finden ab
Eure Gedanken lenken mich vom Denken ab
– Aufmerksamkeit Euch geschenkt
– meine Lebenszeit verschenkt.

Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung