Meine Bilder reichen mir nicht mehr Andere müssen her Aber woher? Ich spüre Dinge, ich sehe sie nicht Ich finde keine Worte, nenn mich Gedicht Die Gesellschaft schreibt mich täglich nieder Ich bin ihr Geheimnis fremd veröffentlicht Sie findet sich und wundert sich in mir wieder. Che Chidi Chukwumerije Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
deutsch
ZWISCHEN ÖSTERREICH UND DEUTSCHLAND
Ich mache seit drei Maitagen Urlaub in den Bergen in Österreich und wieder spüre ich nebenbei wie immer: wo Deutschland hart ist, ist Österreich weich, wo Österreich schwer ist, ist Deutschland leicht. Hier bin ich den Deutschen fern, doch in anderer Hinsicht dem Deutschen nah. Aus sichtbarem Fleisch und unsichtbarem Kern besteht die Frucht der Eigenart der Sehnsucht. Was brodelt in diesem Drang nach Mehr? Mehr Heimat doch mehr Fremde und mehr von dem Pendeln da zwischen hin und her wie Schaukeln zwischen Polen des Verlangens, Widerhall zwischen Herz und Hand, Ferngespräche zwischen Südbergen und Nordseen, Autofahrten zwischen Österreich und Deutschland. - Che Chidi Chukwumerije Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
FAHRT VON MÜNCHEN NACH FRANKFURT
Es ist kälter in München als in Frankfurt
und wärmer auch –
Es kommt darauf an,
ob Du die Menschen anlachst.
Es ist billiger im Dorf als in der Stadt
und teurer auch –
Es kommt darauf an,
welchen Fehler Du machst.
Ich bin nigerianischer als deutscher
Oder auch nicht –
Es kommt darauf an,
wer mich gerade ausschließen will.
Ich fahre von München nach Frankfurt
Oder auch nicht –
Denn meine Gedanken sind wo ganz anders
und sie bleiben nie still.
– Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
TRENNLINIEN
Nie sah ich eine Seele so zweigeteilt
wie die deutsche derweil –
Zwillinge aus einem Ei.
Auf beiden Seiten gute Menschen
getrieben zum Nachdenken
Auf beiden Seiten schlechte Menschen
die sich gegenseitig bösartig bekämpfen.
Ob Migration, ob Corona, irgend ein Rätsel
wird sie immer trennen,
um deutlich zu zeigen, nicht das reimlose
unlösbare Rätsel formt die senkrechte Trennlinie,
sondern Gut und Böse die waagerechte.
– Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
DIE ZWISCHEN GENERATION
Und die Gesellschaft
schwankte zwischen Links
und Rechts, zwischen gerade und
krumm, zwischen Vergangenheit
und Zukunft, zwischen uns und
ihnen, zwischen ‚alle‘
und ‚ein Teil‘, zwischen Sorgen und
Hoffnung, zwischen Zwischen
und Außerhalb…
wie ein Herz am Ende einer alten Beziehung
und vor dem Beginn der nächsten…
– in ihren Augen sind Fragen geschrieben
– in ihrer Seele streiten alte und neue Vorlieben
– in ihren Gedanken ist sie forschend geblieben
– in ihrem Geiste ist sie von Träumen getrieben.
– Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
NEUE MITTE
Wo ist die Mitte?
Ist sie Brauch und Sitte?
Wo ist das Zentrum?
Denn alles ist krumm
Was ist das Bindende?
Ich meine, das Verbindende?
Wie ein älter werdender Mensch
der sich mit seinem sich verändernden
Körper noch nicht anfreunden kann
aber sein Bestes gibt…,
Sucht die Gesellschaft
nach einer neuen Definition von sich,
die Zukunftssinn ergibt.
– Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
TRAUMATA
Hasse
Maße
Straße
Tasse
Lasse
Klasse
Und noch mehr Assen
reimen sich alle auf Rasse
können sie aber nicht ersetzen –
Nichts kann das.
Deshalb schaue ich ein letztes Mal drauf
bevor es aus dem Grundgesetz verschwindet
und ich für immer meine Rasse verliere.
Fühle ich mich nun geschützter?
Oder entblößter?
Verstandener?
Oder missverstandener?
Etwas in mir schaut sich vorsichtig um…
Ich suche schon den nächsten Haken,
bevor ich ihn überhaupt fasse.
– Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
IN MITTEN DER GESELLSCHAFT
Ich greife nach der Gesellschaft
Wie ein Kind nach seiner Mutter greift
Wir ein Ertrinkender, den ein Halm streift
Wie ein Träumer nach einem Gedanken,
den er fast begreift –
Und er schleift und schleift an seinem Begreifenkönnen,
bis er nach und nach heranreift
und wird selbst zur Antwort seiner eigenen Frage
und einem neuen Teil seiner Gesellschaft.
– Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
DEUTSCHSEIN UND ICHSEIN
Wie viele Grenzen habe ich überquert
Auf der Zugreise von Frankfurt nach Berlin?
Die Hauptfrage war anfänglich:
Bin ich Deutsch genug, um Mensch sein zu dürfen
Auf deutscher Bühne?
Jeder Frage gebar eine Folgefrage,
Bis am Schluß die Frage lautete:
Ist Deutsch Mensch genug, um mich gewähren zu lassen
Im deutschen Wesen?
– Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
MENSCH IST MENSCH
Wie wirst Du Deutsch
wenn Du Weiß bist
und nicht weißt,
daß Du Weiß bist?
Wie wirst Du Schwarz
wenn Du Deutsch bist
und nicht weißt,
daß Du Deutsch bist?
Wie wirst Du Mensch
wenn Du nur Weiß bist
wenn Du nur Schwarz bist
wenn Du nur Deutsch bist?
Wie wirst Du Deutsch
Wie wirst Du Schwarz
Wie wirst Du Weiß,
wenn Du nur Mensch bist?
– Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung