Ich frage mich manchmal, ob nachts die Welt vergisst, wie der Tag sich anfühlt und aussieht. So wie ein Körper in seiner Qual nicht mehr weiß, wie es ist, wenn ihn kein Schmerz durchzieht. Oder wie ein Mensch, allein im Tal der Verzweiflung, denkt, daß Christ- us’ Frieden sich auf Märchen bezieht. Und wie der Geist den Heiligen Gral in seiner Erinnerung vermisst, weil ihm genau das Gleiche geschieht. Che Chidi Chukwumerije Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
vergessen
IN MEINER ERINNERUNG
Gesichter ohne Namen, Wo sind Eure Namen alle hin? Die Jungen, die Damen, Mir einst so nah, es war alles drin. Wo sind Eure Namen heute alle hin? Ab und zu eine Wiederbegegnung Mit einer fremden Person jedes Mal. Nur in meiner Erinnerung Leben meine Vertrauten immortal, Bleiben bei jedem Besuch original. Che Chidi Chukwumerije Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
ERLEBEN UND VERGESSEN
Kannst Du Dich daran erinnern als wir einmal vor langer langer Zeit in Salzburg zu Besuch waren? (Schweigen) Wir haben besucht… oder wollten besuchen ein klassisches Konzert… Oder habe ich mir das alles nur geträumt? Ich kann mich nicht daran erinnern Ich wollte irgendwo finden wo ich An der schönen blauen Donau live gespielt hören konnte… Es kommt mir jetzt wie ein Traum vor… (Schweigen) Wie kann man so viel erleben und so viel vergessen?… Che Chidi Chukwumerije Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
VERGESSEN VERGESSEN
Ich wünschte, Gedächtnisschwund… Ich wünschte, Vergessen täte Weh wie eine blutende Wunde, wenn ein Finger abgehackt wird - Aber es ist stattdessen wie Haare. Dem einen gleicht das Vergessen dem langsamen unmerklichen Wachsen, dem anderen dem heimtückischen Abschneiden. Beides tut nicht weh. Hier fühlst Du Dich ein bisschen schwerer. Da ein bisschen leichter. Bis plötzlich Du vor einem Spiegel stehst - Und siehst Dich wieder. Dann erinnerst Du Dich an Dich… Erst dann tut es Weh. Das sich Erinnern. Und das Vergessen vergessen. Che Chidi Chukwumerije Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
VERLORENE KINDLICHKEIT
Am Tor ins Weihnachtsland
blieb ich stehen und wurde blind,
denn hinter der Schwelle sah ich nichts von all den Dingen, die dahinter sind.
Und ich schüttelte leicht den Kopf,
erstaunt, daß ich davon nichts mehr empfind;
denn vor langer Zeit wohnte auch ich
in jenem Land als Kind.
– Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
VERGESSEN
Wie oft muss ich schon gestorben sein,
daß ich Deinen Namen vergessen konnte,
die Du einst meine Sehnsucht gewesen warst,
als ich in Deiner Sehnsucht mich sonnte?
Mehrere Menschen liegen zwischen mir und Dir,
mehrere Leben, mehrere Gräber – und jedes verblich;
Mehrere Geschichten, Entfernungsschichten…
Und jedes davon war auch Ich.
– Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
DU WIRST DEINE ERMORDUNG VERGESSEN
Das Ding mit Sterben ist,
daß Du es vergisst –
Irgendwann als Erwachsener
blickst Du suchend zurück
vergeblich nach dem trennenden Moment
zwischen Dir und Deinem Glück.
Dieses Rätsel wird Dich begleiten
den Rest Deines Lebens:
Wie könnte ich so leise sterben
ohne Anzeichen eines Erdbebens?
Wer oder was hat mich wann getötet?
Du suchst die Antwort … vergebens.
Das Kind starb mit seinen Erinnerungen
Der Jugendliche starb mit seinen Idealen
Der Erwachsene bleibt mit seinen Fragen.
– Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
BEWAHRE DEINE KINDLICHKEIT
Kann es sein, daß
Kinder aus der Zukunft kommen,
in die Gegenwart geboren werden und
in der Vergangenheit sterben?
Wir wissen als Kinder mehr
als wir verstehen,
ringen als Erwachsene mit der Diskrepanz
zwischen Wissen und Verstehen –
Und sterben als Greise, die
weniger wissen als sie
vorgeben, oder glauben, zu verstehen.
Für manche fängt das Leben mit vierzig an
Für manch andere ist es mit vierzig
schon längst getan.
– Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
DAS UNGESCHRIEBENE SCHWINDET WIEDER
Seit zwölf Stunden versuche ich
mich an den Gedanken von gestern Abend
zu erinnern…
Ich habe eine Demo vorbereitet
Ich habe marschiert
Ich habe mich ausgeruht und
Komputerspiele gespielt
Ich bin nun wieder in meinen Kopf eingekehrt
aufgeregt und voller Hoffnung
um die Ecke in mein Gedächtnis hineingeblickt
Doch immer noch fehlt er,
ganz, wie ein Geist –
der schöne tiefe Gedanke von gestern Abend.
– Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
DIE RÜCKKEHR INS PARADIES
Er kehrte nicht mehr zurück
Nicht weil
Er den Weg ins Glück
Suchte und nicht mehr fand
Sondern weil
Er an nichts mehr über das Land
Des Glücks sich erinnerte.
Er glaubte nicht mehr daran
Weil
Ohne Ziel kein Reiseplan.
Ohne Sehnsucht keine Erinnerung
Weil
Ohne Sehnsucht keine Aufdämmerung
Dessen, was schlummerte.
– Che Chidi Chukwumerije
2019: Das Jahr der deutschen Dichtung
