In jenen Momenten wo ich in der Stille in mir sitze und horche und mein freier Wille neue Empfindungen birgt denke ich manchmal an Dich und denke vor allem dies: Denkst Du auch an mich? Che Chidi Chukwumerije Im Jahrzehnt der deutschen Dichtung
Vermissen
HEIMFLÜGE
Und wenn ich weg fliege,
schmiege ich mich um so intensiver
an Dich, meine Liebe. Ich kriege
mit, wie immer sensibler und sensitiver
Dein Verlangen nach mir wächst
Flügeln wächst und mir nach fliegt
dorthin, wo ich nicht bin – es ist verhext –
denn Dein Herz ist wo mein Herz liegt.
Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der deutschen Dichtung
UMRISSE
Als wärest Du aus dem Feinstoff der Schöpfung Erinnerung herausgerissen, schiesst Du - zersplittert - schroff - über die Leinwand in meinem Gewissen, und ich hoff, ich hoff, ich hoff!: Ich ersticke nicht beim Dich Vermissen, Du meine Luft, Du mein Sauerstoff! Che Chidi Chukwumerije Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
JETZT SCHON WISSEN
Wissen. Ich werde Dich vermissen. Bereits wissen. Noch bevor ich Dich finde. Noch bevor ich mich mit Dir verbinde. Ich habe dieses Wissen Aus meinem Gewissen Herausgerissen. Nun kann ich es nicht mehr vergessen. Und suche Dich weiter unterdessen. Das solltest Du jetzt schon wissen. Che Chidi Chukwumerije Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
WENN EINER STIRBT
Ich denke an Dich
Und weiß nicht, wo Du bist
Wie kann das sein?
Einst der wichtigste Mensch in meinem Leben
Einst der engste Verbündete in meinem Streben
Wir haben uns gegenseitig
Alles gegeben und alles vergeben
Doch lag es irgendwo in unserem Weben
Daß wir so früh getrennt sein sollten
Ich bin hier geblieben
Du bist abgeschieden und bist jetzt irgendwo
In der großen weiten Schöpfung
Und ich weiß nicht wo
Du bist.
– Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der Deutschen Dichtung
KWAME
Auch in einer anderen Sprache
spreche ich die selbe Sprache
wenn ich von Dir spreche
oder Dich an spreche
denn manchmal spüre ich
irgendwo tief in mir eine Bewegung
als würden wir gerade und immer noch
mit einander reden…
und der Unfall wäre nie passiert
und die beinahe 25 Jahre
zwischen Deinem Abscheiden und heute
wären nie gewesen.
Wie kann man jemanden so sehr
vermissen? Und jedes weitere Jahr
reißt die Lücke nur noch größer auf
und macht den Schmerz tiefer.
– Che Chidi Chukwumerije
Im Jahrzehnt der deutschen Dichtung

TAG FÜR TAG
Der Tag wie eine Schlange war lang
Wie ein werdender Mensch wechselte er
Mehrmals Charakter, Handschrift, Gang
Fühlte sich am Ende wie ein anderer
Verschwundene Schwan nach seinem Gesang
Ich dachte an Menschen,
Deren Tag in der Freiheit begann
Und im Gefängnis endete – und umgekehrt
Und ich fragte mich: Wann
Sehe ich wieder meinen Bruder heimgekehrt?
Und an jeden Menschen,
Der gestern wie an jedem Tag davor
Und an jedem, der danach noch anbricht
Etwas vermisste, was er einst verlor
Und aller Wandel der Zeit heilt es nicht.
– Che Chidi Chukwumerije
2019: Das Jahr der deutschen Dichtung
SCHMERZ
Dieses Gefühl
Wenn Du eine Person so lange vermisst
Daß es zu einem Teil von Dir wird
Sie zu vermissen
Dann stehst Du eines Tages auf
Und vermisst sie nicht mehr
Und fühlst Dich leer
Denn ein Teil von Dir fehlt jetzt
Sonderbar
Du vermisst es
Sie zu vermissen –
Was macht ein Herz mit der Freude nun
Wenn der Schmerz alles ist
Was es kennt?
Denn ich habe mich neu verliebt.
– Che Chidi Chukwumerije.
FORTFÜHREND
Als mein Bruder
Im Autounfall starb
Quälte mich der Gedanke
Nach seinem letzten bewussten Gedanken.
An was, an wen, woran, hat er zum Schluß gedacht?
Denn er war noch bei Bewusstsein
Als man ihn vom Wrack löste
Und in den Krankenwagen legte
Doch bis sie im Krankenhaus endlich ankamen
War er bereits abgeschieden, und fort.
Es gibt Tage, an denen ich erlebe
Daß die Zeit wirklich still steht
Doch der Mensch, der stets erlebt
Der ist’s, der seine Wege geht.
– Che Chidi Chukwumerije.
UNFASSBAR
Der hauchdünne Schmerz abermals
Jedes Mal, so wie Grausilbernrauchschwaden
Ihr Gedanke vorbei streift
Ich habe den ganzen langen Sommer
Im Loch nach dem Keime umgegraben
Zu entfernen des Schmerzes Brennwurzel
Ungekrönt von Erfolg
Jetzt härtet Herbst den Boden
Bis zum Frühling wird’s noch härter werden
Unter Schnee und Eis und ungetaut
Wird überwintern abermals in mir
Ungelöscht, mein Sehnen nach ihr.
– Che Chidi Chukwumerije.
